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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Kammerherr v. Döring und sein Hausarzt Topp; ersterer war sein Begleiter auf dem täglichen Spaziergange um die Stadt, mit Topp aber, einem kleinen, buckligen Männchen, machte er die gewohnte Partie Schach, wie er sie früher in Berlin mit Moses Mendelssohn und in Hamburg mit Klopstock und Büsch gespielt hatte.

Nun mache der Leser einen kurzen Gang mit uns durch die Straßen Wolfenbüttels bis zu dem vor achtzig Jahren von dem großen Dichter und Denker bewohnten Hause. – Jetzt, nachdem das ganz Deutschland überdeckende Eisenbahnnetz auch hieher seine belebenden Fäden gezogen hat, und in den letzten vierzig Jahren besonders an die Stelle der ehemals die Stadt umgebenden Festungswerke freundliche Anlagen und lachende Obstgärten getreten sind, ist das in einer Niederung gelegene, von zwei Seiten durch schöne Buchenwaldungen begrenzte Wolfenbüttel mit den blauen Harzbergen im Hintergrund ein bei Weitem belebterer und freundlicherer Ort geworden. – Die über ihre Umgebung hervorragenden weitläufigen Gebäude des verlassenen Schlosses, das schöne Kuppeldach der Bibliothek und der schlanke Thurm der Neuen Kirche erinnern immer noch an die Residenz. Das Schloß, ein ursprünglich massives Gebäude aus dem fünfzehnten Jahrhundert, wurde in dem Alles französirenden achtzehnten Jahrhundert vom Herzoge August Wilhelm mit einer hölzernen Façade umbauet, aus deren Dache der mit einer Gallerie versehene alte Schloßthurm ehrwürdig hervorragt. Die im Geschmack Ludwigs des Vierzehnten mit einer Menge allegorischer und mythologischer Figuren gezierte Schloßbrücke bietet jetzt einen ruinenhaften Anblick, die sie einst schmückenden Statuen sind theils in den unten fließenden Strom gesunken, oder haben wenigstens der Alles verzehrenden Zeit einen Theil ihrer classischen Glieder als Tribut dargebracht.

Lessing’s „verwünschtes Schloß“ in Wolfenbüttel.

Denselben Eindruck macht das große Gebäude mit seinen zerschlagenen Fenstern und wankenden Giebeln im Allgemeinen. Drinnen aber ist dem Apoll ein Tempel aufgebauet; – aus dem großen Prachtsaale des Schlosses entstand 1835 ein freundliches Theater, das mit Lessing’s „Emilia Galotti“ eröffnet wurde und auf dem die Mitglieder des Braunschweiger Hoftheaters wöchentlich eine Vorstellung geben. – An diesen seinem Verfall entgegengehenden Fürstensitz knüpfen sich die interessantesten Erinnerungen, sowohl aus den stürmischen Tagen der Reformation, wo Heinrich der Jüngere, der bekannte Widersacher Luther’s, hier residirte, als auch aus dem dreißigjährigen Kriege, wo Wolfenbüttel, als einer der festesten Plätze Niedersachsens, ein Hauptzankapfel der streitenden Parteien wurde. Am 23. Januar 1623 beherbergte es den unglücklichen „Böhmer Winterkönig“ Friedrich V. von der Pfalz, nachdem er, in Folge der unglücklichen Schlacht auf dem weißen Berge bei Prag um die kaum erworbene böhmische Krone gebracht, länderlos umherirrte. – Auf diesem seinem väterlichen Schlosse starb auch am 6. Juni 1626 jener kühne Parteigänger des dreißigjährigen Krieges, Herzog Christian, der, gerührt von dem Unglück der schönen Gemahlin Friedrich’s, Elisabeth Stuart, voll echt ritterlichen Sinnes den Degen für die Dame zog und mit dem Handschuh derselben am Hut und dem Motto: „tout pour Dieu et pour elle“ auf der Fahne, an der Spitze eines Heldenhäufleins, im Verein mit Mansfeld, ein Schrecken der katholischen Länder wurde. Wie bei Bernhard von Weimar und bei Herzog Georg von Celle, dem Ahnherrn der englischen Könige, schrieb man den frühen Tod des „kühnen Halberstädter“ einer Vergiftung zu; jetzt ruht er in der Gruft der Neuen Kirche in einem Sarge von Zinn, das zum Haupte desselben angebrachte Wappen zeigt auch den Hosenbandorden, mit welchem König Jakob I. den jugendlichen Helden geschmückt hatte. –

Einen sehr freundlichen Anblick gewährt der von zwei Reihen junger, schöner Linden eingefaßte Schloßplatz, der zur linken Hand, vom Schloß ab gesehen, von dem durch Heinrich Julius, den berühmten Bischof von Halberstadt, erbaueten schönen Zeughause begrenzt ist. Daneben, indeß vom Platze zurücktretend, steht die Perle Wolfenbüttels, die Bibliothek. Der Gründer dieses jetzt beinahe zweimalhunderttausend Bände zählenden und namentlich an alten Handschriften reichen Bücherschatzes war der von 1634 bis 1666 regierende Herzog August, einer der gelehrtesten und tüchtigsten Regenten seiner Zeit. Den Anfang zu dieser Sammlung machte er schon als apanagirter Prinz auf seiner bescheidenen Residenz zu Hitzacker, weit hinter der Lüneburger Haide an der Elbe; als er 1634 das Land erbte, brachte er dieselbe mit nach Wolfenbüttel. Mitten unter den Drangsalen des dreißigjährigen Krieges fand der gute Haushalter Zeit und Mittel, dieselbe so zu vermehren, daß sie, als er 1666 fast achtundachtzig Jahr alt starb, schon 80,000 Bände zählte; noch heute sieht man auf der Bibliothek die von dem fleißigen alten Herrn eigenhändig geschriebenen Kataloge. Das jetzige Bibliothekgebäude wurde 1708 vom Herzog Anton Ulrich erbaut, auf dem ersten Absatze des schönen Treppenhauses

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_109.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2020)