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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

hastig Bill’s Hand faßte und ihn von der Thür hinweg nach dem Innern zog.

„Es ist etwas Schreckliches im Werke, Bill,“ begann sie hier mit fliegender Stimme, „ich habe nur etwas davon erlauscht, aber es ist genug, um mich das Ganze ahnen zu lassen – höre Bill, und dann sage, wie eine Hülfe möglich ist –!“

„Nur Eins zuvor, Miß Alice,“ unterbrach sie der Knabe, „wissen Sie etwas von Fred und meiner Mutter, von denen kein Mensch in Pleasant-Grove etwas wissen will?“

„Wenn Deine Mutter nicht da ist, so hat sie Fred in Sicherheit gebracht, darauf verlaß Dich – höre mich nur an!“ entgegnete das Mädchen in Hast. „Fred hat diesen Morgen, kaum daß der Angriff auf Pleasant-Grove abgeschlagen war, sich selbst auf den Weg nach Jefferson-City gemacht, um Hülfe herbeizuholen.

Ich habe ihn gesprochen und weiß, daß es sein bestimmter Plan ist, mit dem letzten Eisenbahnzuge Verstärkung für die Deutschen zu bringen. Es wußte Niemand darum, als der Müller Riese, welcher an seiner Stelle das Commando übernommen hat, und doch ist der Plan nicht geheim geblieben. Mein Vater hat Kenntniß davon und auch der Colonel der Secessionisten; ich habe sie Beide heimlich mit einander rathschlagen hören. Sie haben die Tragbalken der Eisenbahnbrücke zerstören wollen, daß der Zug durchbrechen und mit Allen darauf in den Abgrund stürzen soll – und schon seit Mittag ist Vater weg! – Bill!“ rief sie in voller Angst ausbrechend, „sage um Gotteswillen, ob Du einen Rath weißt, wie dem gräßlichem Unglücke vorzubeugen!“

Der Bursche starrte das Mädchen mit weit geöffneten Augen an; dann fuhr er wie im plötzlichen Entsetzen auf. „Geben Sie mir die Laterne – rasch! es ist gewiß schon fast sieben Uhr, und in einer halben Stunde kommt der Zug! ich muß ihm entgegen und warnen!“

„Aber Du kommst nicht über die Schlucht, wenn die Brücke zerstört ist!“ jammerte das Mädchen.

„Ich muß, ich muß!“ stöhnte Bill, wie trotz seines Entschlusses von ihrem Einwürfe getroffen. „Halt, das ist es!“ rief er und griff nach einem zusammengerollten Seile, auf das seine suchenden Augen unter den übrigen Geräthschaften getroffen, „und nun, Miß Alice, beten Sie zu Gott, daß er mir es gelingen läßt – es ist heute kein Glückstag für mich gewesen!“ Die Laterne unter dem Flügel seines Rockes bergend, daß ihn der Schein nicht verrathe, eilte er davon, ehe noch das Mädchen im Stande war, ein Abschiedswort für ihn zu finden.

Bill hatte sich nach dem nächsten Maisfelde gewandt, das ihn bis zu einiger Entfernung vom Hause vor jeder Entdeckung sicher stellen mußte, und verfolgte in Hast eine breite Furche, die sich ihm geboten. Nur in einzelnen Strahlen ließ er das Licht vor sich fallen, um nicht aus der Richtung zu gerathen, und trat bald auf freies Land hinaus. Hier kannte er jeden Fuß breit, aber ein wüthender mit Regen vermischter Sturm empfing ihn, der ihn, bei jedem Schritte vorwärts, wieder zurück zu werfen drohte, und erst als er mit Anstrengung einen Fußweg am Saume des Waldes erreicht, erhielt er einigen Schutz. Den Kopf gegen den Wind gebeugt, die Laterne, deren Licht ihn nur blendete, verdeckt, strebte er vorwärts, so rasch es nur seine Kräfte vermochten; die Eisenbahnbrücke konnte jetzt kaum mehr als zehn Minuten Entfernung vor ihm liegen, und schon hörte er durch das Geräusch des Sturmes ein entferntes Brausen, das ihm zeigte, wie hoch der Bach vom Regen angeschwollen sein mußte. Da blieb er plötzlich stehen und horchte hinter sich. Schon zweimal war es ihm gewesen, als folge Jemand im Walde neben ihm seinen Schritten, und jetzt meinte er deutlich das Knacken eines durchbrochenen Gesträuchs gehört zu haben. Aber es blieb ihm keine Zeit, weitere Untersuchungen darüber anzustellen, sein Aufhorchen war auch nur ein mehr unwillkürliches gewesen; vorwärts eilte er wieder, und deutlicher ward mit jedem Augenblicke das Rauschen und Brausen der Wasser in der tiefen, steilen Schlucht, in welcher der Waldbach sein Bett gewählt. Schon betrat er die Schienen der Eisenbahn, welche der Brücke zuführten, da fegte ihm der Sturm mit einer Macht entgegen, die ihn einen Augenblick völlig betäubte; in der nächsten Minute aber weckte ihn ein donnerähnliches Krachen und Prasseln vor ihm, und er wußte, daß die von den Secessionisten ihres Haltes beraubte Brücke soeben vor dem Andränge des Wassers zusammengebrochen war. Als er mit raschen Schritten das steil abfallende Ufer der Schlucht erreicht, wo nicht ein Stückchen Balken mehr das frühere Dasein des Baues bezeichnete, schwang er seine Laterne, um einen möglichst großen Lichtkreis zu gewinnen, aber nur der schwarze gähnende Abgrund, aus welchem das Tosen der wilden Fluthen heraufklang, zeigte sich seinen Blicken – und seiner Berechnung nach konnte kaum noch eine Viertelstunde Zeit bis zu Ankunft des Zugs, der ohne seine Warnung mit allem Lebenden, das er herbeiführte, rettungslos in das Verderben stürzen mußte, übrig sein. Ein unwillkürliches, aber inbrünstiges „O Gott im Himmel, laß es doch gelingen!“ entrang sich seiner Brust; dann trat er rasch einige Schritte am Ufer hin, wo sich ihm der Stumpf eines abgehauenen Baumes gezeigt hatte, und entrollte das mitgebrachte Seil. Er legte es doppelt, hing es über den Stumpf und ließ sich jetzt mit dessen Hülfe, die Laterne an seinen Arm gehangen, vorsichtig an der steil abfallenden Erdwand hinunter. Jeden Stützpunkt, den seine Füße finden konnten, benutzend, erreichte er rasch und glücklich den Boden der Schlucht und sah sich nun auf einem steinigen Absätze, die dunkele, weiß schäumende Fluth vor sich. Sein erster Blick belehrte ihn indessen, daß hier hindurch zu kommen unmöglich sei; der scharfe, wilde Strom hätte ihn bei dem ersten Schritte in das Wasser mit sich fortgerissen, und zwei Secunden lang stand er rathlos. Wieder schwang er die Laterne nach allen Richtungen, und sein Auge blieb endlich an einem Gegenstände zu seiner Linken hängen, an dem die Wellen sich schäumend brachen. Vorsichtig versuchte er näher zu kommen und faßte glücklich das Bruchstück eines frühern Brückenpfeilers als Halt für seine Untersuchung – ein junger Baum, den die Fluth mit sich gerissen, lag vom Wasser überströmt zwischen beiden Ufern eingeklemmt. Hier allein konnte ein Uebergang vollbracht werden, wenn dieser überhaupt möglich war. Sein Licht hoch haltend, spähte Bill scharf nach dem jenseitigen Ufer; er sah die gebrochenen Aeste des Baumes dort aus der sie umschäumenden Fluth ragen und hätte aufjauchzen mögen – jetzt war er sicher, sein Unternehmen durchzuführen, wenn nur der Zug so lange ausblieb, als er Zeit für sich bedurfte. Rasch faßte er das eine Ende seines Seiles und zog damit das andere von der Höhe des Ufers, wo es um den Baumstumpf lief, herab – er schnitt sich damit den sichern Rückweg ab, er wußte es, aber ein Rückwärts gab es nicht mehr für ihn. Dann knüpfte er in Hast eine weite doppelte Schlinge und warf diese hinüber nach den Aesten des gestürzten Baumes; wohl hatte er drei Mal nach verfehltem Wurfe das Seil wieder durch das Wasser zurückzuziehen; beim vierten Wurfe indessen blieb die Schlinge hängen; er zog mit aller Macht, um den Halt zu prüfen, aber sie saß fest, und in bebender Eile schlang er jetzt das Tau um den gebrochenen Brückenpfeiler zu seiner Seite, spannte es an, soviel seine Kräfte es vermochten, und knüpfte es fest; dann trat er, mit der einen Hand kräftig das Seil fassend, mit der andern die Laterne hoch haltend, ohne Bedenken nach dem überströmten Stamme hinab. Schon bei seinen ersten Schritten merkte er, daß es seiner ganzen Vorsicht bedurfte, um auf der schlüpfrigen Bahn festen Fuß zu gewinnen; je weiter er aber der Mitte des Baches zuschritt, je höher stieg das Wasser an seinen Beinen herauf, und oft fühlte er, wie die Macht des Stromes ihn fast unwiderstehlich hinunter in die Tiefe zu drängen drohe, und wie es seiner ganzen Kraft bedurfte, um sich den nöthigen Halt am Seile zu geben. Er hatte die Mitte der Fluth erreicht, wo ihr Zug am stärksten war, und blickte eben besorgt vor sich, denn hier schien sich der Stamm völlig auf den Grund gesenkt zu haben, da klang es plötzlich von der Höhe des rückwärts liegenden Ufers: „Halloh, wer ist dort unten?“ Bill zuckte zusammen, das war die Stimme seines bisherigen Brodherrn, Anderson, desselben Mannes, welcher die Brücke zerstört. Harrte er auf den herankommenden Zug, um sich von dem Gelingen seines teuflischen Werkes zu überzeugen? oder war er es gewesen, den Bill beim Beginn seines Weges hinter sich gehört? Eins stand dem Knaben in voller Gewißheit vor der Seele: Gelang es dem Manne, ihn zu erreichen, so war es mit der Rettung des Zuges vorüber! und hastig, ohne an die erhöhte Gefahr zu denken, trat Bill in das tiefere Wasser, das, obgleich er auf den Baumstamm traf, ihm bis über die Kniee ging und mit gewaltiger Kraft ihn fast in den kochenden Strudel daneben gezogen hätte. Noch zeitig genug hatte Bill mit beiden Händen das Seil gepackt und trat jetzt mit Anstrengung aller seiner Kräfte auf’s Neue vorwärts.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_128.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)