Seite:Die Gartenlaube (1862) 138.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Geschmack, daß der Sitzungssaal des „hohen Hauses der Abgeordten“ einfach gehalten ist. Umringt von Bureaux, der Restauration, dem Lesezimmer und Corridoren, glicht er etwa einem römischen Atrium, zum Theil überdeckt mit einem Glasdach. Außerdem werfen noch von zwei Seiten Fenster aus der Höhe Licht in dieses längliche Viereck. Die Wände, sowie der Charakter der Drapirung sind purpurn gehalten, und der hohe, luftige Bau gewinnt dadurch eine gewisse angenehme Füllung. Während die eine der langen Wände ganz kahl ist und nur, dem Präsidentenstuhle gegenüber, eine Uhr trägt, sind in der Mitte der Höhe der drei übrigen breite Tribünen angebracht, deren Sitzreihen amphitheatralisch emporsteigen. Der untere Raum des Saales ist vornehmlich von den Bänken für die Abgeordneten gefüllt. Sie haben Rohrsitze zum Auf- und Niederklappen und gepolsterte Lehnen mit rothem Tuch bezogen. Vor jedem Sitze, an der Rücklehne der vorderen Bank (wo solche sind), befindet sich eine kleine zierliche Klappe, als Pult zu gebrauchen.

Die Aufstellung dieser Bänke ist nach der parlamentarischen Ordnung erfolgt. Die mittleren sind in die Form eines Hufeisens gebracht worden, welches quer in den Saal gelegt ist. Der Rücken desselben lehnt sich an eine niedrige, längere Estrade mit einem Gitter umgeben und in der Mitte vor der tribünenfreien Wand errichtet. Auf dieser Estrade ist die sogenannte Ministerbank. Die beiden Flügel des Hufeisens ziehen sich bis mitten in den Saalraum, und alle Sitze desselben bezeichnet man als Centrum, die Flügel speciell noch als rechtes und linkes Centrum.

Quer vor der offenen Seite dieses Hufeisens, in der Mitte der langen Wand und unter der Journalistentribüne, ist das Präsidialbureau auf einer erhöhten Estrade. Den obersten Platz nimmt der Präsident ein; ihm zu beiden Seiten sitzen die vier Abgeordneten, welche das Protokoll führen und die übrigen Bureaugeschäfte zu besorgen haben. Vor dieser Estrade, in der Mitte des Saalraumes, befindet sich die Rednertribüne und vor dieser wieder der Tisch für die Stenographen.

Zu beiden Seiten dieses hufeisenförmigen Mittelraumes, mit der Front sich gegenüber, stehen die übrigen Bänke. Sie sind kurz, meist zu fünf Plätzen, und durch drei die Länge durchschneidende Gänge wie in Treffen aufgestellt. Nur an der Wand gegenüber dem Präsidenten und rechts und links vom Ministertische sind mehrere Bänke der Länge nach postirt und je zu zwölf bis fünfzehn Sitzen eingerichtet. Die ganze Seite rechts vom Präsidenten heißt die Rechte, die links von demselben die Linke; als ihre äußersten Enden versteht man die zunächst dem Präsidialbureau.

Alle diese Plätze sind dazu bestimmt, freie Männer zu tragen; aber dieser Bestimmung entgegen setzten sich auch oft Feiglinge, Schwächlinge und Bedienten hierher. Das jetzige Abgeordnetenhaus soll seiner verfassungsmäßigen Bestimmung einmal Ehre machen; mindestens hat das Land überwiegend Männer zu Abgeordneten gewählt, welche die Pflicht und den Willen haben sollen, den gebührenden Platz einzunehmen und zu behaupten. Deshalb sitzen zum ersten Mal die wahren Gesandten des Volks hier zusammen, und kein preußisches Abgeordnetenhaus hat seit den Zeiten von 1848, in denen der Most noch gohr, so treu und nuancirt den Ausdruck der Gesinnungen im Volke widergespiegelt. Alle Parteien, von Weiß bis Blau, sind hier vertreten, und man kann sagen, in ihrem richtigen Machtverhältniß.

Auf der äußersten Rechten sind die führerlosen Reste der Reaction postirt. Trotz der parlamentarischen Bedeutung der alten feudalen Obristen Wagener, Blanckenburg, Pückler und Arnim, hat kein Kreis sie wieder gewählt; sie mögen daraus lernen, daß ihre Macht mit Herstellung normaler Verhältnisse zusammenbricht. Kaum ein paar ihrer Soldaten haben in der Wahlschlacht das Leben gerettet, und diese wenigen sind da, um den Ausdruck einer kleinen, einst durch Intrigue mächtigen Partei zu repräsentiren.

Neben ihr sitzen die Trümmer der Fraction Mathis, richtig postirt zwischen Reaction und lauwärmstem[WS 1] Constitutionalismus. Den übrigen Theil der ganzen rechten Seite füllt die sogenannte Partei Grabow aus, zusammengesetzt aus den Mitgliedern der alten Fraction Vincke und der liberalen Bureaukratie. Man könnte diese Rechte die preußische Gironde nennen, theoretische Staatsmänner ohne praktischen Blick, Schönredner und Thatenscheue, kühne Doctrinaire und ängstliche Ministerielle. Sie ist das Leibgardecorps der jetzigen als liberal bezeichneten Minister, die sich auf dasselbe wie auf eine Lebensversicherung verlassen. Auch „Gouvernementale“ hört man sie nennen, weil sie mehr die jetzige Regierung, um keine schlimmere an deren Platz zu lassen, denn einzelne Minister stützen wollen. In einem so jungen parlamentarischen Leben, wie das Preußens ist, haben sich noch zu wenig politische Charaktere herausgebildet, um eine persönliche Partei bilden zu können. Die Gesinnung allein macht noch Parteien und hält sie zusammen, und wird diese Gesinnung durch irgend eine Thatsache in Versuchung geführt, so kommt es auch vor, daß eine Partei sich in Fractionen zersplittert, daß Viele die alte Fahne verlassen, um unter einer neuen zu fechten. So sprengte in der vorigen Session die Militairfrage die große Vincke’sche Partei in mehrere Fractionen, und die jetzigen Gouvernementalen – alte Vinckeaner, Altliberale, Constitutionelle – können heut noch gar nicht wissen, ob sie sich im Laufe der Debatten nicht zersplittern werden.

Bis auf die Bänke des rechten Centrums erstreckt sich das kleine Corps der Stavenhagen und Harkort, welche eine gewisse Sympathie für die Rechte haben, aber doch nicht unter allen Umständen zu ihr halten wollen. Im mittelsten und linken Centrum sind vornehmlich die Katholiken, die Mitglieder der Fraction Reichensperger, postirt. Sie sind an Zahl nicht gering, ihrer fünfzig, und von jeher eins der wichtigsten Elemente in dem Abgeordnetenhause. Da sie ihre politische Gesinnung meist nach den Interessen ihres religiösen Glaubens regeln, so bezeichnen sie durch ihre Mittelstellung deutlich, daß sie unter Umständen, mit der Rechten oder auch mit der Linken gehen wollen. Wie der Katholicismus überhaupt, ist auch diese Fraction zur Opposition in liberalem Sinne entschlossen, so lange es nicht an ihre besonderen Interessen geht. In die Macht Anderer, namentlich wenn sie ihnen feindlich ist, legen sie gern Bresche, um ihre eigene Macht desto mehr zu stärken.

Auf der linken Seite erkennt man die Ausstellung der Partei, welche man die demokratische nennen kann und welche von den lichtesten Farben bis zu den intensiven vertreten ist. Die Parteien sind eben in diesem Abgeordnetenhaus so vollständig vertreten, daß sie nicht in schroffen Gegensätzen sich gegenüber stehen, sondern in reicher Nuancirung und Abschattung fast wie die einer Farbenrose in einander laufen. Der Hauptkern der Linken wird durch die Mitglieder der deutschen Fortschrittspartei gebildet, durch die mit den Thatsachen versöhnte Demokratie, welche einesteils die Rücksicht auf den liberalen Ruf eines Ministers nicht so weit treiben will, um die Sache des Liberalismus darüber aus den Augen zu verlieren, und anderntheils auch Preußen zu einer kräftigeren Politik zu Gunsten der deutschen Einheit zu drängen beabsichtigt. Während die vorige Kammeropposition an der Parole „Nur nicht drängeln“ festhielt, gedenkt die Fortschrittspartei energisch den thatsächlichen und liberalen Ausbau der theilweis noch als Papier erscheinenden Verfassung zu urgiren, schreiende Mißstände der Verwaltung zu heben, die noch gepflegten Reste des Feudalstaates zu attaquiren, die Initiative der Reform zu ergreifen, wenn die Regierung diesem lebhaftesten Wunsch des Landes nicht entgegenkommt. Sie will nicht grundsätzlich, aus bloßer Lust am Opponiren, eine Linke, d. h. eine Opposition gegen die Regierung sein; aber sie will auch, aus Rücksicht auf eine ersichtlich zwiespältige und deshalb schwache Regierung, das Mandat nicht unerfüllt lassen, welches ihr das Volk gegeben. Deutschland soll durch die Einführung und Ausführung wahrhaft, nicht mehr scheinbar constitutionellen Lebens in Preußen im Vertrauen zu demselben gehoben werden, und meinen es die Minister, die als liberal gelten, ehrlich mit der Sache, nicht mit ihren Posten, so werden sie durch die Vertheidigung des entschiedenen Liberalismus Seitens der Fortschrittspartei nicht fallen, vielmehr in ihren Stellungen und in ihren Absichten gesunde Kräftigung erhalten. Nicht von dem guten Willen der Minister, sondern von festen Gesetzen soll das Wohl des Landes abhängen, und das ist es, was das preußische Volk diesen Abgeordneten auf die Seele gebunden hat. Die volksthümlichsten, erprobtesten und am meisten mit Vertrauen beehrten Männer wurden deshalb vom Volke erwählt, ja, es griff nach Männern der Nationalversammlung von 1848 in dankbarer Erinnerung zurück, um damit anzudeuten, wo wieder anzuknüpfen sei! Nicht Tendenzen sollen geritten werden, nicht Schablonen von Grundsätzen aufgestellt, Thaten nicht in schönen Worten geleistet werden – besonnen wie Männer, erfahren wie Politiker, bestimmt wie Charaktere

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: lauwärmsten
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_138.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)