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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„O Arnold,“ rief ich, „Sie wollen Alles in mir umstützen!“

Er sah mich wieder mit jenen resoluten Augen an, als da ich zum ersten Mal ihm gegenüber stand; und jetzt plötzlich wußte ich es, was mich so vertraut aus diesem Antlitz ansprach. Ich schwieg, denn mir war, als fühlte ich das Blut in meine Wangen steigen. Dann aber, als er mich fragend anblickte, suchte ich mich zu fassen und wies mit der Hand nach jenem alten Familienbilde oberhalb der Thür. „Sehen Sie keine Aehnlichkeit?“ fragte ich, „der Eine von jenen Knaben muß Ihr Vorfahr sein?“

Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. „Sie wissen ja,“ erwiderte er kopfschüttelnd, „ich gehöre nicht zu den Ihrigen.“

„Ich meine den Knaben, der den Sperling auf der Hand trägt,“ sagte ich.

Ein Ausdruck des bittersten Hohnes flog über sein Gesicht. „Den Prügeljungen? Das wäre möglich; meine Familie ist ja hier zu Haus.“ Aber gleich darauf strich er mit jener leichten Kopfbewegung das Haar zurück und sagte fast weich: „Verzeihen Sie mir, Fräulein Anna; ich bin nicht immer gut.“

Ich war aufgestanden, und ich glaube, ich habe ihn mit meinen finstersten Augen angesehen. „Sie machen mir den Vorwurf,“ erwiderte ich, „aber Sie selbst, meine ich, sind der Hochmüthige!“

„Nein, nein!“ rief er, indem er die Hand wie abwehrend von sich streckte, „das ist es nicht; ich schätze Niemanden gering.“

Unser Gespräch wurde unterbrochen. Die Damen kamen zurück, und ich hatte Mühe, meine Aufregung vor ihnen zu verbergen. – – – – – – – – – – – – – – –

Am Abend befanden wir uns Alle, außer dem Oheim, der niemals eine Gesellschaft besuchte, in dem schönen hellerleuchteten Rathhaussaale der nächsten Stadt.

Es war eine Reihe von lebenden Bildern gestellt, welche die verschiedenen Epochen der städtischen Entwickelung zur Anschauung bringen sollten. Nun wurde der Saal geräumt, um Platz zum Tanzen zu gewinnen; Jung und Alt stand umher, sich über die eben beendigten Aufführungen unterhaltend. „Charmant; in der That charmant!“ hörte ich die Stimme meines Vaters; ich sah ihn bald mit diesem, bald mit jenem in verbindlicher Weise conversiren; er lächelte, er bot den Herren seine Dose; es schien überall eine harmlose Gegenseitigkeit zu walten. Ich hatte mich Arnold zum ersten Tanz versagt; mir klopfte das Herz, denn ich hatte seit lange nicht und niemals noch mit ihm getanzt. Meine gesangeskundige Freundin hatte sich zu mir gefunden; wir hatten Arm in Arm gelegt und wandelten unter den brennenden Kronleuchtern plaudernd auf und ab. Während schon die Musikanten ihre Geigen stimmten, kam mein Vater auf uns zu. Er machte der jungen Dame über ihre Mitwirkung in den gestellten Bildern ein Compliment und sagte dann wie beiläufig: „Du wirst Dich fertig machen müssen, Anna; der Wagen ist vorgefahren.“

„Was, Sie wollen schon fort? Anna! die Uhr ist ja kaum erst zehn!“ rief das junge Mädchen.

Mein Vater neigte sich höflich zu ihr. „Wir müssen herzlich bedauern; aber ich hoffe, Sie werden uns recht bald bei uns zu Hause das Vergnügen machen!“

Mir quoll das Herz, aber ich schwieg; es konnte mich nicht überraschen, was geschah; ich hatte es in meiner Freude nur vergessen.

Nun traten auch Andere herzu, und es erfolgten Bitten und freundliches Drängen von allen Seiten; mein Vater hatte vollauf zu thun, das Alles in leicht hingeworfenen Worten abzulehnen. Die Vorwände waren zwar augenscheinlich nichtig; aber sie waren ja auch nicht darauf berechnet, Glauben zu erwecken. Man begann denn auch allmählich zu begreifen; es entstand eine Stille, und die Leute zogen sich Einer nach dem Andern zurück. Mein Vater wandte sich noch an seinen Hauslehrer. „Amüsiren Sie sich, liebster Herr Arnold, und haben Sie nur die Güte, dem Kutscher zu sagen, wann Sie geholt sein wollen.“

„Ich danke, Excellenz; ich werde gehen.“

Dann brachen wir auf. Tante Ursula, die Oberforstmeisterin und ihre Schwester nahmen mich in ihre Mitte; so schritten wir an der schweigenden Gesellschaft vorbei den Saal hinab. – Es waren Männer darunter, die den Stempel langjähriger ernster Gedankenarbeit auf der Stirn trugen, Jünglinge mit tiefen, vornehmen Augen, Mädchen mit allem Stolz und aller Grazie der Jugend; wir aber waren etwas zu Apartes, um uns mehr als andeutungsweise mit ihnen zu bemengen. Im Vorübergehen sah ich den stillen Ausdruck der Kränkung auf manchem jungen Antlitz, auf manchem alten ein ruhiges Lächeln. Ich mußte die Augen niederschlagen; ich haßte – nein, ich verachtete, mit Füßen hätte ich sie von mir stoßen mögen, die mich zwangen, mich so vor mir selber zu erniedrigen!

Am andern Vormittag, da ich noch ganz erfüllt von solchen Gedanken in den Garten gegangen war, begegnete mir Arnold in dem hinteren Quergange der Lindenallee. Es lag ein finsterer Stolz in seinen Augen, als er langsam auf mich zukam. Wie von innerer Gewalt gedrängt, streckte ich beide Hände gegen ihn aus. „Arnold,“ rief ich, „das war nicht meine Schuld!“

Er ergriff sie und sah mir eine Weile voll und tief in die Augen. „Dank, Dank für dieses Wort,“ sagte er, indem alle Düsterheit aus seinem Angesicht verschwand; „es hat nicht helfen wollen, daß ich es mir selbst schon tausend Mal gesagt habe.“

Dann gingen wir schweigend neben einander in’s Schloß zurück; mir war, als sei eine Centnerlast von meiner Brust gefallen, als ich jetzt wieder zu der Tante in den Saal trat.


Bald darauf wurde es eine trübe, einsame Zeit. Die Schwäche des kleinen Kuno nahm in einer Weise zu, daß der Arzt jeden Unterricht auf Jahre hinaus untersagte. In Folge dessen verließ uns Arnold; er wollte nach der Residenz, um sich an der dortigen Universität als Docent zu habilitiren. Der kleine Kranke wollte ihn gar nicht von sich lassen; Arnold mußte ihm versprechen, daß er wiederkomme oder daß er ihn zu sich holen wolle, sobald seine Kräfte wieder zugenommen hätten. Wenn wir vorausgewußt, daß schon nach einem Monat das kleine Bett leer stehen würde, er wäre wohl so lange noch geblieben.

An einem klaren Novembervormittag hielt unser Wagen unten auf dem Hofe, um ihn nach der nahen Stadt zu bringen. Ich war von einem Gefühl schmerzlicher Unruhe getrieben in den Garten hinabgegangen; die Buchenhecken waren schon gelichtet, die letzten gelben Blätter wehten von den Bäumen. Während ich in dem Gange hinter dem Laubschlosse auf und ab ging, sah ich Arnold in dem Hauptsteige herabkommen; er stand mitunter still und blickte um sich her; ich fühlte wohl, daß er mich suchte. Aber ich ging ihm nicht entgegen. Ein Trotz, eine Wollust des Schmerzes überfiel mich: ich sollte ihn auf immer verlieren, so wollte ich auch diese letzten armseligen Minuten von mir werfen. Ich schlich mich leise durch die Büsche in die Seitenallee und floh wie ein gejagtes Wild den Steig hinab. Unten schlüpfte ich durch eine Lücke, die in dem Zaune war, in das angrenzende Gehölz. Dann, nachdem ich seitwärts durch die Bäume gegangen war, so weit, daß ich den Hauptgang des Gartens überblicken konnte, stand ich still und schlang den Arm um einen Tannenstamm. Ich sah noch, wie Arnold aus dem Garten trat, wie hinter ihm das eiserne Gitterthor zuschlug. Ich rührte mich nicht; als ich nach einer Weile hörte, wie der Wagen über das Steinpflaster des Hofes rollte, warf ich mich auf den Boden und weinte bitterlich.

Da legte sich eine Hand sanft auf meine Schulter. Es war mein Oheim. „Komm,“ sagte er, „komm, mein Kind; wir wollen noch einige Kiefernäpfel für meinen Kreuzschnabel suchen.“ Er hob mich vom Boden auf und strich mit der Hand die trockenen Tannennadeln aus meinen Haaren; dann, nachdem er einige Kienäpfel zwischen den Stämmen aufgesammelt, führte er mich in’s Haus und über eine Hintertreppe auf sein Zimmer. „So,“ sagte er und drückte mich in seinen großen Lehnstuhl nieder und streichelte mir die Wangen, „besinne Dich, mein Kind!“ Ein paar Mal ging er die Hände auf dem Rücken im Zimmer auf nieder; dann fütterte er den Kreuzschnabel und den lahmen Staarmatz und machte sich draußen vor dem Fenster am Bauer des Käuzchens was zu thun; endlich kam er wieder zu mir zurück. „Es wird recht einsam für Dich werden,“ sagte er, „im Winter allein mit all’ den alten Menschen; aber um Ostern – ich hab’ es mir bedacht – da reisen wir beide einmal in die Residenz; ich werde den Vetter bitten, daß er Dich mit mir reisen läßt. – – Der Arnold ist dann auch dort,“ fuhr er wie beiläufig fort, „er kann uns umherführen; der Bursche muß ja dann schon überall Bescheid wissen.“

Als ich bei diesen Worten seine Augen mit dem Ausdruck der zartesten Fürsorge auf mich gerichtet sah, gedachte ich unwillkürlich der seltsamen Erklärung der Liebe, die er mir vor einiger Zeit und an derselben Stelle gegeben hatte. „Onkel,“ sagte ich leise, während ich den Druck seiner Hand an der meinen fühlte, „ist denn das auch nur die Furcht vor dem Alleinsein?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_178.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)