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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Es ahnte mir gestern,“ sagte er, „daß es mit uns zu Ende ginge,“ und mit jenem melancholischen Lächeln, das ihm von jeher eigen gewesen war, sagte er: „Einer muß der Letzte sein!“

„Du nicht! Du nicht!“ rief Veronika, die an seinem Lager kniete, „Du wirst leben, Joseph, der Arzt –“

„Kann mir nicht helfen!“ sagte der Graf, und dann seine Hand auf ihr Haupt legend, fügte er hinzu: „Du hast Dein Wort gehalten! Bis in den Tod getreu!“

Er seufzte, ein leiser Schauer flog über sein Antlitz und durch seine Glieder, seine Lippen bewegten sich noch, aber was er sagte, verstanden die Seinen nicht mehr. – War es der Name der Frau, welcher sein Leben angehört, war es der Name des Königs, für den er gestorben, oder noch ein reuevolles Wort des Dankes für die Unglückliche, deren Liebe er gekränkt und verschmäht – wer will das sagen?

Stumm standen die Ueberlebenden an seiner Leiche, sein Tod schloß die lange Reihe seiner Ahnen, die Devise der Grafen von Rottenbuel erfüllte sich an ihm, und mit düsterm, thränenlosem Blicke auf ihn niederschauend, während sie ihm die Augenlider schloß, wiederholte die Freifrau seine Worte: „Einer muß der Letzte sein!“

Dann aber schlug sie die Hände in gewaltigem Wehkrampfhaft zusammen, und ihr festes Herz erzitterte in der Klage um den einzigen Bruder und um den Untergang ihres alten stolzen Stammes und Geschlechts!




Ich hatte es mit Jungfer Ursula verabredet, daß ich ihr die Erzählung zu lesen geben würde, welche ich nach ihren schriftlichen und mündlichen Mittheilungen zusammen zu stellen unternahm.

Als ich meine Arbeit beendet hatte, brachte ich sie ihr. Sie behielt sie ein paar Tage, und als sie mir dieselbe dann zurückgab, fragte ich sie, ob sie zufrieden sei, und ob sie glaube, daß ich den innern Zusammenhang der Personen und Ereignisse, soweit derselbe aus den vorhandenen Papieren nicht zu ersehen war, richtig ergänzt hätte.

„Ja!“ sagte sie, „so wird’s gewesen sein, und ich habe es mir selbst oft so gedacht; nur wie es nachher geworden ist, das haben Sie nicht berichtet.“

Ich erinnerte sie, daß sie selbst mir die Erzählung von dem späteren Schicksal ihrer Eltern noch schuldig geblieben sei, und da wir eben an dem Abende allein beisammen waren, holte sie nach, was ich noch zu wissen nöthig hatte. Weil sie aber bei ihrer Erzählung die handelnden Personen immer als ihre Großmutter und ihren Vater und ihre Mutter bezeichnete, welche Bezeichnung den Leser nur verwirren kann, so will ich auch den Schluß der Geschichte, wenn schon möglichst mit den Worten der Jungfer Ursula, so doch mit den Eigennamen der betreffenden Personen zu Ende führen.

Der Zustand von Paris und die völlig untergrabene Gesundheit der Gräfin bestimmten die Freifrau und Ulrich, auf eine schleunige Abreise zu dringen, die jedoch nicht leicht in’s Werk zu setzen war, denn Veronika bestand darauf, nicht ohne die Leiche ihres Gatten in die Heimath zurück zu kehren. Als dann die Bekanntschaften des Freiherrn ihm endlich die Erlaubniß und die Papiere verschafften, welche in dem revolutionirten Lande, mitten durch ein von Mißtrauen und Verdacht aufgeregtes Volk, den Transport eines verschlossenen Sarges möglich machten, trat man die traurige Reise an, die nur langsam von Statten ging.

Es war schon Herbst, als die Gräfin auf dem einsamen und hochgelegenen Rottenbuel eintraf, dennoch verweigerte sie es, mit der Freifrau nach Thuris zu gehen oder das im Prätigau gelegene Schloß Calanz zu beziehen, welches Graf Joseph in seinem Testamente, da es nicht zu dem Majorate gehörte, sondern Privatbesitz war, seiner Witwe als persönliches Eigenthum verschrieben hatte.

Was man auch thun mochte, Veronika zu überreden und zu überzeugen, daß sie es nöthig habe, unter Menschen zu sein, daß sie den Ihren den Trost bereiten möge, sie pflegen und warten, zu dürfen, sie wies es mit fester und ruhiger Entschiedenheit zurück.

„Ich muß Zeit haben, das, was ich erlebte, zu begreifen!“ gab sie stets zur Antwort, und es war unverkennbar, daß irgend ein Eindruck, über welchen sie nicht sprach, ihr die Erinnerung an den Tod und an die Todesstunde des Grafen noch furchtbarer machte. Aber sie verschwieg ihn fest, und erst als sie schon eine Greisin war, ließ eine ihrer Aeußerungen es Ursula errathen, daß sie noch in den letzten Augenblicken des Grafen eine Begegnung mit der Marquise gehabt hatte, die ihr das Herz vollends zerrissen; was jedoch geschehen war, das hat sie Niemandem anvertraut.

Der Graf hatte in seinem letzten Willen die Hoffnung ausgesprochen, daß es der Liebe seines Neffen, der er, ohne es zu wissen, störend in den Weg getreten sei, einst gelingen werde, Veronika’s Herz zu rühren und ihr Ersatz zu bieten für das Unglück ihrer ersten Ehe. Aber die Gräfin gehörte nicht zu der Zahl der Frauen, die sich leicht zu trösten und es zu vergessen vermögen, daß sie ihres Herzens Liebe begraben und daß ihnen damit die Hälfte ihres eigenen Seins genommen ist. Ihr Schmerz war ihrem Cultus, dem ausschließlich zu leben ihr Bedürfniß war, und erst nach vielen Jahren gewann sie die Seelenfreiheit, welche es ihr möglich machte, der Bewerbung Ulrich’s Gehör zu schenken, seine Treue als einen Segen anzuerkennen und seine Frau zu werden.

Die Ehe war würdig und schön, wie man es von dem Charakter der beiden durch ihr Leben geprüften Menschen erwarten konnte. Veronika hatte die Leiche des Grafen in Calanz begraben lassen und sich so sehr an diesen Aufenthalt gewöhnt, daß der Freiherr nach seiner Verheirathung darein willigte, dort seinen eigentlichen Wohnsitz aufzuschlagen.

„Wir führten ein Leben,“ erzählte Jungfer Ursula, „von dem eben nicht viel zu sagen war. Wir hatten Wohlstand, Friede im Hause, Verwandte und Freunde im Lande und in der Nachbarschaft, und ich wüßte mich aus meiner Kindheit keiner besonderen Ereignisse zu erinnern, denn selbst die Kriegsjahre gingen an uns gnädig genug vorüber, und was ich davon weiß, habe ich nur von Hörensagen behalten, wie mir scheint.

Im Jahre 1814 aber, als ich schon ein erwachsenes Mädchen und die Mutter eine Frau von nahezu fünfzig Jahren war, saßen wir einmal spät Abends unten im Saale Alle beisammen, die Eltern, der Bruder und ich. Es war Ende April, aber das Frühjahr kam spät und war sehr kalt, und hier oben bei uns in den Bergen lag noch Schnee. Wir hatten einen starken Föhn, die Wetterfahnen auf den Thürmen pfiffen gellend auf ihren Angeln, und der Wind schüttelte die Bäume so heftig, daß die Aeste knarrten. Aus den Rinnen floß das thauende Wasser plätschernd herab, und von allen Bergen rieselte es nieder, daß das Wasser überall stark geworden war und man es rauschend dahinströmen hörte. Die Wege waren grundlos, denn der Schnee war noch nicht ganz fortgeschmolzen, und von Besuch und von Fremdenverkehr war also nicht die Rede. Jedermann war froh, wenn er zu Hause bleiben konnte, und die Mutter sprach das eben aus, als die Hunde anschlugen und es an der Pforte klingelte.

Gleich darauf kam der Diener herein und meldete, daß der Wirth aus dem Kruge da sei und den Vater sprechen wolle. Damals war Bünden schon eidgenössisch geworden,“ schaltete Veronika ein, „und der Wirth war also so gut wie wir, oder kam sich doch wenigstens so vor. Der Vater sagte ihm daher, daß er sich setzen solle, er schien’s aber sehr eilig zu haben, denn er, der sich das sonst von unser Einem nicht zweimal anbieten ließ, blieb stehen und sagte, er bäte um Entschuldigung, aber es sei ihm eine Frau, eine kranke Frau in’s Haus gekommen, die er nicht recht verstehen könne, da sie französisch rede, und was er verstehe, das sei so verwirrtes Zeug, daß er meine, sie rede irre. Sie sehe nicht besonders aus, habe auch nur armseliges Gepäck bei sich. Aber so lange sie auf den Beinen gewesen, habe sie sich großes Ansehen gegeben, und nun sie darnieder liege, halte sie immer ein Bild in den Händen, das sie am Halse hängen habe. Er wisse nicht, was er aus ihr und mit ihr machen solle, und er bitte deshalb, ob nicht der Vater einmal herunterkommen wolle, um zu sehen, was es mit der Person auf sich habe, und ob man den Doctor kommen lassen müsse oder nicht.

Wo es einem Leidenden beizuspringen galt, da durfte man bei dem Vater nicht erst zweimal anfragen, und die Mutter war da noch viel schneller bei der Hand. Die Eltern hießen den Diener sogleich eine Laterne besorgen, die Mutter nahm ihren Capuzenmantel um, und so gingen sie mit dem Wirthe auf dem nächsten Wege nach dem Krug. Dabei erfuhren sie auf meines Vaters Frage, wo denn die Kranke hergekommen sei, daß des Wirthes Sohn sie mitgebracht habe. Er hatte deutsche Herrschaften über den Splügen nach Italien gefahren, und im Gasthof zu Chiavenna, wo er die Nacht mit seinem Gefährt gerastet, war die Fremde zu ihm gekommen und hatte mit ihm darüber verhandelt, daß er sie

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