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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ich flog vorwärts, denn ich hörte schon die verfolgenden Schritte – da nahm der Corridor, in welchen ich eingebogen, ein Ende, und vergebens strebte ich, nach irgend einer Seite hin eine Möglichkeit zu weiterer Flucht zu entdecken. Ein Zurückeilen hätte mich meinen Verfolgern gerade in die Hände geliefert, und in der Verzweiflung meines Herzens öffnete ich ein Fenster, das mir die Aussicht auf das Laubwerk eines nahestehenden Baumes gab, vielleicht daß es mir gelang, einen der Aeste desselben zu erreichen; aber schon der erste Blick hinaus belehrte mich über die Vergeblichkeit meiner Hoffnung. Da klang der Ruf eines meiner Verfolger ganz in der Nähe – schon die nächste Secunde mußte mich ihnen überliefern, und nur der augenblicklichen Angst nachgebend, stieg ich aus dem Fenster, mich auf eins der schmalen Gesimse, welche das Haus als Zierrath umliefen, hinablassend; der einzige Halt für meine Hände war dabei immer nur die Fensterbrüstung, jeder Blick von innen heraus mußte mich entdecken und ich meinte schon Stimmen in meiner unmittelbaren Nähe zu hören – da fiel mein Auge auf die blecherne Röhre an der Ecke des Hauses, zur Leitung des Regenwassers vom Dache nach dem Boden bestimmt, und auf die Gefahr hin in eine Tiefe zu stürzen, welche das herüber reichende Laub des Baumes mich nicht ermessen ließ, gab ich mir einen Schwung, um den neuen Halt zu gewinnen – und ich gewann ihn; aber während sich meine Hände krampfhaft um die Röhre schlossen, waren meine Füße von dem Gesims geglitten und vergebens strebte ich, an der glatten Mauer einen neuen Stützpunkt dafür zu gewinnen – der Baum, welcher mich mit den äußersten Spitzen seines Laubes verbarg, verwehrte auch dadurch meinen Augen jeden Blick unter mich. Und jetzt, wie ich so da hing, nur von der Kraft meiner Arme vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt, fühlte ich zum ersten Male, daß meine Kleider sich naß und schwer an meine rechte Seite anschlossen, fühlte es warm über meine Haut rieseln und erkannte, daß ich verwundet war. Mochte es nun diese plötzlich gewonnene Ueberzeugung oder wirklich eine Folge des schon erlittenen Blutverlusts sein, ich fühlte meine Arme schwach werden, es überkam mich wie eine halbe Ohnmacht, und nur das plötzliche Klirren des Fensters neben mir vermochte es, mir für einige Secunden meine Geistesklarheit wieder zu geben. „Er muß hier hinaus sein, und doch hätte er nicht mit ganzen Knochen unten ankommen können!“ klang es; dann schloß sich das Fenster und ich fühlte, wie meine Finger die Kraft verloren, mich ferner zu halten, die Verzweiflung schlug ihre Krallen in mein Herz und vor meinen Augen dunkelte es wieder, eine unklare Idee, daß meine Glieder im nächsten Momente zerschmettert auf dem Pflaster liegen würden, durchfuhr mich –“ der Erzähler faßte, wie völlig von der Aufregung überkommen, nach seinem Glase, stieß es aber, da es leer war, wieder von sich und ließ das Gesicht in seine Hände fallen.

„Gin, Kellner, bringen Sie Gin!“ rief Mader, als denke er dem Verblutenden damit neue Kräfte einzuflößen. Der Erzähler aber hob erst den Kopf wieder, als der Duft des neu herbeigebrachten Getränkes seine Nase berührt haben mochte, nahm bedächtig zwei große Schlucke und fuhr dann fort: „Es ist wunderbar, Gentlemen, wie in schlimmen Lagen oft der Geist so befangen ist, daß er das Einfachste und Natürlichste nicht zu erkennen vermag. Als meine Finger ihre Spannkraft zu verlieren begannen, fühlte ich mich langsam an der Dachrinne, an welcher ich hing, hinabgleiten, und der Rest meines Bewußtseins reichte gerade noch hin, um durch Anklammern meiner Kniee diese Niederfahrt nicht zu einem raschen Sturze werden zu lassen; kaum hatte ich aber den Boden erreicht, als es auch völlige Nacht um mich ward.

Mein nächstes Gefühl war das, mich auf einem bequemen Lager zu befinden. Wie ein sanfter, süßer Hauch ging es über mein Gesicht, und ich öffnete mühsam meine Augen. Da meinte ich ihr in Thränen gebadetes Gesicht vor mir zu sehen; im nächsten Augenblick aber hatte mir die Anstrengung auch schon wieder meine Besinnung genommen, und als ich am folgenden Tage zum ersten klaren Gedanken wieder gelangt, als ich erfuhr, daß ich im Hospitale lag, wohin ich, fast zum Tode verwundet, von der Straße aufgelesen, gebracht worden war, hielt ich die Erscheinung für einen Traum. Noch todesmatt lag ich an diesem Abende regungslos und mit halbgeschlossenen Augen, da ging derselbe süße Hauch wie Tags vorher wieder über mein Gesicht; ich sah rasch auf, und diesmal war es kein Traum – sie stand mit einem Blicke, aus dem es sich wie unendliche Liebe in den meinen ergoß, über mich gebeugt. Ich wollte mich aufrichten, aber vermochte es nicht – da senkte sie ihre warmen Lippen leise auf die meinen, zugleich aber fühlte ich, wie zwei schwere heiße Thränen auf meine Wangen fielen; dann drückte sie die Hand vor die Augen und trat hinweg. Als ich mühsam den Kopf gewendet, sah ich eben ihr Kleid in der Thür des kleinen Zimmers, welches für mich allein eingeräumt war, verschwinden. Später erfuhr ich, daß, als durch meinen Chef der Aufenthalt seines verschwundenen Arbeiters ermittelt worden war, sie, die Niemand im Hospitale kannte, die Kosten für meine besondere Pflege bezahlt und während der gefährlichsten Periode meines Zustandes jeden Abend weinend an meinem Lager gestanden hatte.

Seit diesem letzten Besuche kam sie nicht wieder, und erst als ich wieder zu Kräften gelangt war, ward mir ein Brief von ihr, ihr letztes Lebewohl, wie sie damals meinte, eingehändigt. Ich habe diese Zeilen so oft gelesen, daß sie Wort für Wort in meinem Herzen eingegraben stehen. Sie schrieb:

„Ewig Geliebter!

Wir müssen für immer scheiden, aber wenn auch Welt und Menschen unsere Körper trennen, so werden unsere Seelen doch fort und fort bei einander sein. Ich will an Dich denken im Wachen und Schlafen, und wenn wir Beide gestorben sind, wird mein Geist durch den Weltenraum fliegen, um den Deinen zu suchen.

Ich sollte verheirathet werden und widerstand, seit ich Dich gesehen; Niemand vermochte sich meine plötzlich veränderte Gesinnung zu erklären, bis mein Bruder Dich bei mir fand. Die Rache der Familie sollte sich jetzt über Dein schuldloses Haupt ergießen, und nur unter der Bedingung meiner sofortigen Zustimmung zu der einmal beschlossenen Heirath ward jede Verfolgung wegen der Verwundung meines Bruders aufgegeben. Er ist wieder hergestellt, und keine Blutschuld haftet auf Dir. Ein Tuch aber, welches Dein Blut getrunken, soll bei mir bleiben bis an meines Lebens Ende.

Ich sollte zu meiner Hochzeit als reichgeschmücktes Opferlamm erscheinen, aber sie haben mir wenigstens die Verhöhnung meiner Herzenstrauer erlassen müssen, und ich lege die dafür bestimmt gewesene Summe Dir hier bei, da sie im Stande sein wird, wenigstens in Etwas Deinen künftigen Lebensweg zu ebenen.

Und so lebe tausendmal wohl, bis unsere Geister in einem neuen Leben, wo kein Unterschied herrscht, selig in einander fließen werden.“

„Und diesen Zeilen,“ fuhr der Redner tiefaufathmend fort, „war eine Summe in Banknoten beigefügt, die mir sofort die Möglichkeit gab, eine eigene Selbstständigkeit zu begründen, und als ich ihre Schriftzüge mit meinen Thränen durchnäßt, leistete ich mir einen heiligen Eid, daß niemals in diesem Leben ein anderes Weib mich dem Andenken an sie untreu machen solle, die mich geliebt wie Keine.

„Aber wozu sage ich das Alles Euch,“ fuhr der Erzähler mit einem Schmerzenstone plötzlich auf, „von denen wohl Jeder meint, schon geliebt zu haben, und doch nicht weiß, was Liebe ist? die Ihr wohl kaum mich verstehen werdet, wenn ich Euch nun den schrecklichsten Abend meines Lebens mittheile, den Abend, der mich für diese Welt zu Grunde gerichtet – gebt mir Gin, Gin, damit ich meinen Gram ersäufe!“

Mader rief mit einer Stimme nach Gin, welche die tiefe Bewegung zeigte, die Ton und Ausdruck des seltsamen Mannes in ihm hervorgerufen.

„Ich stürzte mich jetzt in’s Geschäftsleben,“ fuhr der Letztere nach einem raschen Zuge aus seinem Glase fort, „ich hatte ein eigenes Etablissement begründet, und mein bisheriger Ruf als Arbeiter schuf mir bald einen reichen Kundenkreis, keine meiner Preise waren zu hoch, und je mehr ich mit dem Schicksale, das mich auffallend begünstigte, spielte, desto höher hob es mich. Mein Geschäft ward endlich eins der renommirtesten unter der gesammten Aristokratie, und die offenen und verdeckten Heirathsanerbietungen mehrten sich täglich; aber ich blieb treu dem, was ich geschworen.

Da kam einmal wieder Weihnachts-Abend heran, der Tag, an dem ich zugleich geboren bin. Eine kleine Gesellschaft von Freunden hatte sich in meinem eleganten Parlor eingefunden, fast ward ich selbst heiter unter dem muntern Tone, der sich herausbildete, und das wohlthuende Gefühl durchdrang mich, daß ich den Haupterfolg meines geschäftlichen Lebens meiner eigenen Thätigkeit zu danken hatte. Wir waren, während ein eiskalter Wind an den Fenstern rüttelte, mit einem guten Mahle und einer heißen Bowle Punsch beschäftigt gewesen, und erst nach Mitternacht verabschiedeten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_195.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)