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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 14.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.


Amnestie!

Das Wort war lange ein Zauberwort für uns. Das Leben des Flüchtlings ist ein schweres, bitteres, trauriges. Das Vaterland ist ihm verschlossen, die Heimath bleibt ihm immer und immer fern. Er kann nicht an sie denken, ohne daß zugleich Zuchthaus und Todesurtheil vor ihm stehen.

Es ist so schön in der Schweiz, so wunderschön in Zürich. Wir lebten so frei hier, so sicher vor den Zuchthäusern und Todesurtheilen der Heimath, ein Kreis braver, trauter und treuer Freunde. Aber wenn wir auf hohem Berge standen, vor uns und neben uns und rund um uns her, wohin und so weit das Auge reichte, die erhabensten, die wundervollsten Schönheiten der Natur: das Auge flog über sie alle hinweg, es suchte nur eine Richtung, es suchte den Norden; nach Norden schweifte es in die weiteste, in die dunkelste Ferne; dort suchte es das Vaterland, die Heimath, Deutschland, und es konnte sich nicht abwenden, bis dort über die Mitternacht sich die Mitternacht legte und Alles in ihr tiefes, undurchdringliches Dunkel einhüllte. Das Vaterland hatte sich uns verschlossen, die Heimath hatte uns ausgestoßen, Deutschland sollte für uns nicht mehr da sein. Wir halten nur einen Gedanken, nur eine Sehnsucht: Vaterland, Heimath, Deutschland.

Manchen brachte die Sehnsucht in das frühe Grab, und wenn wir Anderen an dem Grabe weinten – die Sehnsucht wurde in uns nur um so mächtiger, schmerzlicher, glühender. Manchem, dem das Herz nicht brechen konnte, wurde es zu schwer. Die Sehnsucht trieb ihn zurück in die Heimath. Lieber das Zuchthaus, lieber den Tod! Aber hier in der Fremde kann und kann ich es nicht mehr aushalten! Sie kehrten zurück, sie fanden den Kerker! Die Armen! Die Geduld hatte sie verlassen. Sie hätten die Enttäuschung wohlfeiler haben können.

Die Amnestie kam. Nur noch nicht nach Sachsen. Aber von Sachsen erzähle ich hier nicht. Von Sachsen habe ich anderswo eine Geschichte erzählt, auch von einem armen Flüchtlinge, der das schöne Zürich verließ, um nur auf eine einzige Stunde die Heimath seiner Kinder wieder zu sehen, von denen er seit so vielen Jahren nichts gehört hatte. Das Wiedersehen hatte ihm nicht nur das Herz gebrochen, es hatte ihm auch den Geist zerrüttet.

Die Amnestie kam. Das Vaterland stand uns wieder offen. Wir durften in die Heimath zurückkehren. Wir waren wieder Deutsche. Nahm uns das Vaterland wieder auf? Das war die Frage, oder vielmehr es war nicht einmal die Frage.

Wir blieben in der freien Schweiz und sind noch da. Und wenn wir auf den hohen Bergen stehen und der Blick nach allen Seiten in die unbegrenzte Ferne schweifen kann – ja, unsere Augen und unsere Herzen suchen auch jetzt noch das theure deutsche Vaterland auf, aber nicht mit Sehnsucht, sondern voll von Schmerz, daß wir uns nicht nach ihm sehnen können, und daß es noch so lange dauern wird, daß wir es nicht mehr erleben werden, bis ein freies deutsches Herz sich wieder nach Deutschland hin sehnen kann.

Einzelne waren gegangen, nur Wenige. Sie kehrten nach wenigen Tagen, nach wenigen Wochen zurück. Das Vaterland hatte sie nicht wieder annehmen, die Freunde hatten sie nicht mehr kennen wollen, das Volk – ach, das Volk, das deutsche Volk ist immer brav und edel, aber wenn denen, die seine Führer sein wollen, der Muth oder gar noch mehr abhanden gekommen ist, dann werfe man keinen Stein auf das Volk. Seine bessere Zeit wird schon kommen.

Mit den Wenigen war Einer gegangen, den meine allerherzlichsten Glückwünsche begleitet hatten. Er war von Allen, die zurückkamen, der Unglücklichste. Von ihm will ich hier erzählen.

Es war ein stiller, milder, blasser junger Mann. Er konnte im Anfange der dreißiger Jahre stehen und war einige Monate nach der badischen Revolution nach Zürich gekommen, nachdem schon längst die Trümmer des badischen Revolutionsheeres die schweizerische Grenze überschritten und in der Schweiz eine Zufluchtsstätte gefunden hatten.

Seine Cameraden hatten ihn für todt gehalten. In einem der letzten Gefechte hatten sie ihn fallen sehen. Er hatte an der Spitze seiner Compagnie gekämpft, wie jung er auch damals noch war; er hatte damals kaum zwanzig Jahre zählen können. Er und seine Leute waren immer und überall die Ersten gewesen, wo die Gefahr am größten war. Eine Gewehrkugel hatte ihm in dem Gefechte das Bein zerschmettert. Er war niedergesunken und hatte sich nicht aufrichten können; einige von seinen Leuten hatten ihn aufgehoben und aus dem Gefechte getragen, hinter eine Hecke. Sie hatten auf seinen Befehl in den Kampf zurückkehren, ihn verlassen müssen. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gesehen, nichts mehr von ihm gehört.

Seine Cameraden hatten ihn alle als todt betrauert. Sie hatten ihn nur kurze Zeit gekannt, aber in der kurzen Zeit als den muthigsten und tapfersten Soldaten achten, als den bravsten und treuesten Cameraden lieben gelernt. Er war mitten in den Revolutionskrieg hineingekommen, aus einem anderen deutschen Lande, das seine Heimath war, und in dieser Heimath aus dem Gefängnisse, in das man den Jüngling eingesperrt hatte, weil die Gerichte seiner Heimath ihn als Hochverräther verurtheilt hatten. Er hatte sich aus dem Kerker befreit; wie, das wußte man nicht. Man wollte nur im Allgemeinen von einer fast wunderbaren Errettung, von großen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_209.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)