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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 16.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung)

Auf einem Spaziergange traf ich Alexander Roth. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, und ebenso war es den andern Bekannten ergangen. Es hieß, daß er in der letzteren Zeit förmlich menschenscheu geworden. Er wollte mit einem stummen Gruße an mir vorübergehen. Er sah sehr blaß aus. Auf einmal blieb er stehen.

„Erlauben Sie, daß ich Sie auf Ihrer Promenade begleite?“ fragte er.

„Es wird mir angenehm sein.“

Er hatte etwas auf dem Herzen und konnte es nicht für sich behalten.

„Sie waren letzte Zeit Criminalrichter?“ sagte er dann.

„Ja.“

„Ist es Ihnen in Ihrer Praxis vorgekommen, daß ein Unschuldiger verurtheilt wurde?“

„Nein! Aber ich kann es nur als ein Glück betrachten, für das ich Gott nicht genug danken kann. Oft genug ist es mir begegnet, daß ich in der ersten Zeit nach einem Verbrechen, im Anfange einer Untersuchung Jemanden für den Thäter, für einen Verbrecher hielt, dessen Unschuld durch die weiteren Ermittelungen, und wie häufig nur durch ein glückliches Ungefähr, sich später vollständig herausstellte.“

„Das kann vorkommen? Einem gewissenhaften, tüchtigen Manne gegenüber?“

„Dem tüchtigsten, dem gewissenhaftesten, meine ich. Denken Sie an den traurigen Fall, der gerade jetzt in Aller Munde ist.“

„Kann es vorkommen, daß Jemand sich selbst für schuldig hält, der in der That unschuldig ist?“

„Auch davon sind mir Beispiele bekannt geworden.“

Er sann nach. Er war unruhig geworden und uneinig mit sich.

„Haben Sie Zeit?“ fragte er dann.

„Sie hören, ich mache eine Promenade.“

„Werden Sie es nicht verschmähen, einen Criminalfall von mir anzuhören?“

„Interessante Criminalgeschichten höre ich immer gern. Sie kennen das Sprüchwort von dem alten Fuhrmann.“

„Mein Fall ist interessant. Doch ich weiß es nicht. Haben Sie die Güte, mir zuzuhören.“

Er erzählte. Er war aufgeregt geworden und suchte anfangs seine Aufregung zu verbergen. Nachher vergaß er es. Er hatte zuerst kalt, trocken gesprochen. Er wurde immer lebhafter, aufgeregter, zuletzt – aber ich darf nicht vorgreifen.

„Ich erlebte einmal eine seltsame Geschichte,“ hob er an. „Es war im März des Jahres 1849. Ich hatte flüchten müssen, denn ich war schon damals als Hochverräther verfolgt. Sie wissen, einen Vorwand, Jemanden wegen Hochverraths zu verfolgen, hatte man damals schnell und leicht genug bei der Hand. Die Regierungen wünschten es; die Gerichte beeilten sich, wo möglich den Wünschen der Regierungen noch zuvorzukommen. Polizei und Militär war mir auf den Fersen. Ich kannte nur noch einen sicheren Aufenthaltsort, an dem ich mich, bis man von meiner unausgesetzten Verfolgung ablasse, ohne Gefahr der Entdeckung verbergen könne. Es war die Wohnung eines Freundes, der zur Partei der entschiedensten, der heftigsten Reaction gehörte. Er war mein erklärtester, erbittertester politischer Widersacher. Aber er war zugleich der stolzeste und der unbeugsamste Charakter, und nie habe ich einen Mann kennen gelernt, der eifersüchtiger auf seine Ehre vor den Menschen, vor der Welt war. Der untadelhafteste Edelmann zu sein, an dessen Namen und Ruf auch nicht das kleinste Fleckchen gehängt werden könne, das war ihm Alles, dafür hätte er sein Leben als ein Nichts hingegeben. Daß er mir, dem alten, engverbundenen Freunde, ein Asyl bei sich nicht verweigern, daß er es mir um so weniger verweigern werde, je mehr wir erbitterte neue Widersacher waren, davon konnte, mußte ich eben so sehr überzeugt sein, als ich sicher darauf rechnen konnte, daß man gerade bei ihm, dem allbekannten Aristokraten und Reactionär, mich am allerwenigsten vermuthen und aufsuchen werde.

Sein Schloß lag einsam im Gebirge. Ich erreichte es, verkleidet, nachdem es mir geglückt war, meine Verfolger von meiner Spur abzulenken. Ich war früher nur einmal in dem Schlosse gewesen, vor Jahren, als Knabe, mit meinem Vater, der den Vater meines Freundes besucht hatte. Schon unsere Väter waren Freunde gewesen. Ich hatte nur noch eine schwache Erinnerung des Gebäudes. Meinen Freund hatte ich seit zwei Jahren nicht wieder gesehen. Das schon damals in der Gährung begriffene politische Leben hatte uns aus einander gebracht. Er hatte sich zu derselben Zeit vermählt. Er war mehrere Jahre älter als ich. Seine Gattin hatte ich nie gesehen, ich hatte nur gehört, daß sie eine sehr schöne, aber reizbare, heftige, zum Jähzorn geneigte und zudem stolze Frau sei. Ich war gegen Abend in der Kleidung eines Bauern im Schlosse angekommen. Ich traf auf dem Schloßhofe einen Bedienten und fragte ihn, ob der Herr zu Hause sei.

„Ja,“ war die Antwort.

Ob ich ihn sprechen könne?

„Nein.“

Ich müsse ihn dringend, nothwendig sprechen.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_241.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)