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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

einem weiblichen Wesen von besserer Bildung und einem reinen, edlen Herzen?“

Meine Antwort hatte ihm den schweren Athem erleichtert.

„Haben Sie die Güte, mir weiter zuzuhören,“ fuhr er fort. „Ich mußte noch fast eine volle Stunde allein in meinem Zimmer zubringen. Niemand war bei mir gewesen; um mich her war es still geblieben, nur einmal hatte ich gehört, wie draußen von dem Schloßhofe ein Reiter fortgesprengt war. Einige Minuten später war eilig ein Wagen fortgefahren. Licht hatte ich dabei auf dem Hofe nicht gesehen, um so weniger also erkennen können, wer sich entfernt hatte. Endlich hörte ich wieder Schritte in dem Cabinet neben mir. Ich glaubte den Schritt meines Freundes zu erkennen und hatte mich nicht geirrt. Er ging in dem Zimmer ein paar Mal rasch auf und ab, dann langsamer; dann hatte er plötzlich die geheime Thür zu meinem Zimmer geöffnet. Er stand fest und ruhig vor mir, ohne eine Spur seiner früheren Aufregung. Aber er war sehr blaß, seine Gesichtszüge waren erschlafft, auf seinem ganzen Wesen lag ein schwerer Druck. Er sah aus, wie ein Mensch, den ein großes, schweres Unglück, irgend etwas Schreckliches getroffen, der aber mit großer Kraft sich wieder zu erholen, sich wieder aufzurichten vermocht hat, freilich noch immer angegriffen von dem Schlage, wie vielleicht auch gerade von der Anstrengung, die er machen mußte, um sich zu erholen.

„Darf ich Dich bitten, zu mir einzutreten?“ sagte er. „Wir sind dort völlig ungestört.“

Wir begaben uns in sein Cabinet.

„Ehe wir von Dir sprechen,“ hob er da an, „habe ich Dir eine traurige Mittheilung zu machen. Du bist in einem unglücklichen Momente in mein Haus getreten. Vor einer halben Stunde starb meine Frau.“

„Großer Gott!“ mußte ich entsetzt rufen. Und Ida –? Ich hatte den Namen nicht ausgesprochen, aber der Gedanke wollte mich vernichten.

Der Graf – mein Freund – Er war Graf. Ich darf auf Ihre Verschwiegenheit rechnen, wenn ich Ihnen auch den Namen nicht nenne?“

„Sie dürfen.“

„Der Graf hatte mein Entsetzen nicht bemerkt. Er hielt sein Gesicht mit seinem Taschentuche bedeckt und athmete schwer darunter. Ich glaubte, ihn schluchzen zu hören. Er faßte sich wieder und nahm meine Hand.

„Verzeihe mir,“ sagte er. „Ich konnte meinem Schmerze nicht wehren. Laß uns jetzt von Dir sprechen. Ich ahne, was Dich zu mir, gerade hierher führt –“

„Nein,“ mußte ich ihn unterbrechen. „Nachher von mir. Erzähle mir zuerst von Deiner lieben Frau.“

„Ich soll mir das Herz erleichtern, meinst Du. Ich bin Dir dankbar dafür. Wohlan denn. Aber was soll ich Dir erzählen? Ein solcher plötzlicher Schlag betäubt.“

„Deine Frau starb plötzlich?“

„Ach, wie man es nimmt. Sie war noch so jung, und ich liebte sie so innig. Wie käme da der Tod nicht zu früh! Wie käme er nicht plötzlich, einem Blitze aus heiterem Himmel gleich!“

„Sie war also krank vorher?“

„Unwohl nur und seit vorgestern erst. Erst vor etwa einer Stunde zeigten sich ernsthafte Krankheitssymtome.“

„Und auch der Arzt hatte vorher keine Gefahr erkannt?“

„Ein Arzt war nicht da. Wir hatten keine Gefahr geahnt, die Kranke am allerwenigsten. Der Arzt wohnt weit, sie wollte nicht, daß zu ihm geschickt werde. Außerdem haben wir eine Hausapotheke im Schlosse. Vor einer Stunde, schon vor anderthalb Stunden, sandte ich dennoch zu ihm, vor einer halben Stunde, als er nicht kam, nochmals und zugleich schickte ich ihm meinen Wagen entgegen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick, freilich zu spät; allein was ihr fehlte, an welcher Krankheit sie gestorben ist, kann er uns sagen.“

„Du weißt das nicht?“

„Sie war immer wohl gewesen. Vorgestern klagte sie über Kopfschmerzen, Druck im Magen. In der Nacht war ihr wohler geworden. Am Morgen hatten die Schmerzen wieder zugenommen. Die Mittel der Hausapotheke milderten, und heute früh fühlte sie sich völlig wohl. So blieb es bis zum Abend. Nur war sie sehr ermattet. Gegen Abend trat auf einmal, ganz plötzlich, heftiges, von Viertelstunde zu Viertelstunde sich steigerndes Kopfweh ein, eine furchtbare Beängstigung gesellte sich hinzu. Ich hatte schon in der ersten Viertelstunde zu dem Arzte gesandt. Drei Viertelstunden später war sie todt. Eine Stunde, nein, eine halbe Stunde vorher hatte ich noch nicht an eine Möglichkeit des Todes gedacht; fünf Minuten vorher hatte ich den Gedanken daran wie Wahnsinn von mir zurückgewiesen. Ermiß nun meinen Schmerz. Er ist um so größer, da ich ihn allein tragen muß. Unser einziges Kind, kaum ein Jahr alt, versteht ihn noch nicht einmal.“

Er schloß. Ich hatte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zugehört, aber ich gestehe es, auch mit Mißtrauen, und ich weiß selbst nicht, woher es mir kam, auf jedes seiner Worte, auf jede seiner Mienen, auf jede seiner Bewegungen geachtet. Er hatte ganz mit jener Fassung eines Mannes gesprochen, der von einem harten Schlage getroffen ist, der noch unter dem Drucke eines schweren Schmerzes leidet, der aber die hohe Kraft der männlichen Selbstbeherrschung hat und durch sie zum Herrn seines Schmerzes geworden ist. So mit voller innerer Wahrheit. Von meinem Mißtrauen hatte er keine Ahnung, eben so wenig also auch von dem Grunde meines Mißtrauens. Und doch wollte, konnte es nicht schwinden, wenn ich an Ida dachte. Ich mußte ihm näher treten.

„Dir stand Niemand zur Seite in der Pflege der Armen?“ fragte ich ihn.

„Die Erzieherin meiner jüngeren Geschwister,“ sagte er.

Er hatte, wie mir einfiel, ein paar jüngere Schwestern. Sie wohnten bei ihm im Schlosse, und Ida war also als ihre Erzieherin hier. Ich schloß es aus seiner Antwort, und so war es. Er hatte mir unbefangen, wie zerstreut geantwortet, dennoch mußte ich weiter fragen.

„Du hattest wirkliche Hülfe an ihr?“

„Gewiß. Sie war meiner Frau schon lange eine Freundin geworden. Sie hat ihr beigestanden bis zu ihrem letzten Athemzuge, wie eine Schwester, wie eine Mutter.“

Mir wollte es leichter um das Herz werden. Ich glaubte jene Angst Ida’s auch ohne ein Verbrechen mir erklären zu können, erklären zu müssen. Er sprach nicht weiter, und ich fragte ihn nicht mehr.

„Laß uns jetzt von Dir sprechen,“ sagte er. „Mir ahnt es, Du bist als Flüchtling hier.“

„Du hast es errathen.“

„Ich rechne es Dir hoch an, daß Du zu mir kommst. Es war der Schritt eines edlen Freundes.“

„Ich wußte, daß Du mich so aufnehmen würdest.“

„Und Du bist sicher hier. Man wird Dich bei mir nicht suchen, Niemand könnte in diesem weitläufigen Schlosse Dich finden. Du kannst hier jahrelang unentdeckt bleiben.“

„Ich hoffe Deine Freundschaft nur für kurze Zeit in Anspruch nehmen zu müssen.“

Wir wurden unterbrochen. Auf den Schloßhof war rasch ein Wagen gefahren. Mein Freund blickte durch das Fenster.

„Der Arzt!“ sagte er. „Ich muß ihn zu der Todten führen. Kehre in Dein Zimmer zurück. Ich komme wieder zu Dir.“

Ich ging in mein Zimmer zurück. Er verließ das seinige, und ich war wieder in völliger Stille und konnte frei meinen Gedanken nachgehen. Ich wurde mehr und mehr ruhig. Ich hatte ihr das Wort „Verbrechen“ zurufen wollen. Sie hatte es gewußt. „Sprich es aus!“ hatte sie gesagt. Ich erwartete mit Schmerzen ihre Rückkehr. Sie kam nicht. Aber etwas Anderes kam. Der Graf kehrte nach einer halben Stunde in sein Zimmer zurück. Bei ihm war ein Fremder, der Arzt, wie ich bald erfahren sollte.

„Herr Graf,“ hob sofort nach dem Eintreten der Fremde an, „ich habe Sie gebeten, mich hierher zu führen, weil ich Ihnen etwas mitzutheilen habe, das ich zunächst nur Ihnen allein sagen darf.“

Er sprach mit tiefem, fast feierlichem Ernst, mit mühsam unterdrückter Bewegung. Er hatte eine wichtige Eröffnung zu machen.

„Und was wäre das?“ fragte der Graf.

Seine Stimme verrieth gleichfalls Bewegung, die Bewegung der Spannung.

„Ihre Frau Gemahlin ist an Gift gestorben!“

„Großer Gott!“ schrie der Graf auf.

Es war ein furchtbarer Schmerzenston.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_243.jpg&oldid=- (Version vom 3.6.2018)