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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 17.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung)

„Die Gräfin war vergiftet; es war nicht mehr zu bezweifeln. Die Erzieherin war nicht mit den Anderen im Sterbezimmer gewesen; sie nicht, die treueste Pflegerin der Verstorbenen. Und gerade, als ich auf sie das Gespräch gebracht, war der alte Friedrich so einsylbig, so zurückhaltend geworden. Und dann – sie war nur als Erzieherin der Schwestern des Grafen da, und doch – es fiel mir auf einmal glühend heiß auf das Herz – und doch war sie allein und durch die verborgene Thür in das Cabinet des Grafen gekommen, sogar, als sie ihn dort nicht fand, in das geheime Zimmer nebenan, in dem sie mich getroffen hatte. Sie konnte so ohne Weiteres zu ihm kommen, ihn aufsuchen. Sie mußte mit ihm vertraut sein, eigenthümlich vertraut. Und auf der anderen Seite wieder, hatte nicht dennoch der Graf in jenen wenigen Worten, die ich aus seinem Gespräche mit dem Arzte vernommen, vielleicht unwillkürlich, aber deutlich, gerade auf sie einen entsetzlichen Verdacht geworfen? Und wirklich unwillkürlich? Vielleicht nur unbedachtsam in meiner Nähe. Als ihm diese einfiel, hatte er mit dem Arzte das Zimmer verlassen, um ganz ungestört mit ihm weiter reden zu können.

Meine Gedanken verwirrten sich. Meine Phantasie zeigte mir das Entsetzlichste. War Ida erst Nebenbuhlerin, dann Mörderin geworden? Es war nicht möglich. Aber der Graf? Wir waren Freunde, ich hatte in ihm den stolzesten Mann, den Mann der untadelhaftesten Ehre kennen gelernt. Aber war es nicht vielleicht blos der Stolz des Edelmannes, die äußere Ehre des Standes gewesen? Und – die Macht der Leidenschaft ist eine furchtbare, und sie ist um so furchtbarer, je verbrecherischer die Leidenschaft ist, und wie leicht kann ein junger, vornehmer, reicher Edelmann ein armes, bürgerliches Mädchen bethören! Und Ida war schön, und sie war allein und heimlich zu ihm gekommen, in der Stunde des Todes seiner Gattin! – Ich hatte in der ganzen langen Nacht keinen Augenblick Schlaf.

Der Graf hatte mir sagen lassen, er werde erst am andern Morgen zu mir kommen. Aber Ida hatte mir ihren Besuch noch für den Abend versprochen. Ich erwartete sie. Ich wartete in fieberhafter Aufregung auf sie. Sie kam nicht. Niemand war zu mir gekommen. Es war auch ruhig im Schlosse geblieben während der Nacht. Als der Tag graute, hörte ich einen Wagen wegfahren, zehn Minuten nachher einen zweiten, eine Viertelstunde später einen dritten. Sonst vernahm ich nichts. Um die Frühstückszeit kam der alte Friedrich zu mir, mir das Frühstück zu bringen. Er sah erschöpft und zugleich verweint aus, er mußte die ganze Nacht gewacht haben, und es mußte dem alten treuen Diener etwas sehr schwer und hart an das Herz getreten sein.

„Der Herr Graf läßt sich entschuldigen.“ sagte er. „Er hat heute früh plötzlich abreisen müssen, ohne von Ihnen Abschied nehmen zu können.“

„Der Graf ist abgereist?“ mußte ich fragen, das Wort „reisen“ betonend.

„Ja.“

„Allein?“

„Nur mit Dienerschaft.“

„Und wohin?“

„Der Herr Graf will eine größere Reise antreten. Sie können denken, daß es ihm unmöglich sein muß, länger in diesem Schlosse zu bleiben.“

„Ich hörte drei Wagen fortfahren.“

„In dem dritten war der Herr Graf.“

„Und in dem ersten?“

„Die Gerichtsbeamten. Sie hatten die ganze Nacht verhandelt.“

„Und in dem zweiten?“

„Die Gouvernante der jungen Gräfinnen.“

„Auch sie ist abgereist?“ Ich mußte mir fast übermenschliche Gewalt anthun, um meine furchtbare Aufregung nicht zu verrathen.

„Ja,“ antwortete er halblaut.

„Und wohin sie?“

Dem alten Manne stürzten die Thränen aus den Augen.

„In das Criminalgefängniß.“

„Friedrich!“

„Die gnädige Frau ist vergiftet. Das Fräulein, die Gouvernante ist die Giftmischerin, die Mörderin.“

„Das Fräulein –?“

„Sie soll es sein. Nein, nein, sie ist es. Sie kann es ja nur sein. Nur sie allein war um die Kranke. Sie hat sie gepflegt und ihr die Arzneien gereicht, den Thee, den Zucker, die Suppen –“

„Aber warum? Warum hat die Unglückliche Mörderin werden können?“

Er zuckte die Achseln. „Ich weiß nichts, gar nichts.“ Er wollte nichts mehr wissen.

„Hat sie ein Bekenntniß abgelegt?“ fragte ich ihn noch.

„Nein.“

Mir wollte doch ein Stein vorn Herzen fallen. Ich fragte


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_257.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)