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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Auf der Bleichenbrücke.
Nach der Natur gezeichnet von Julius Geißler.

Tonfalles eine geringe Ähnlichkeit mit höchst mißlungenen Gesangesversuchen. Bald hoch, bald niedrig, bald laut, bald leise, bald knarrend, bald schmelzend, bald gellend, bald jauchzend, bald scharf prononcirt, bald zaghaft zitternd entringt er sich hundert und aberhundert Kehlen und lockt die harrenden Freunde und Freundinnen der eßbaren Bewohner des Meeres und der Flüsse an Fenster und Thüren. Jeder Hausbewohner erkennt seinen Händler an der Stimme, an der Originalität der Melodie, welche die zungengewandten Verkäuferinnen sich selbst dazu erfunden haben. Stinte werden anders ausgerufen als Dorsche und Schellfische, Steinbutten anders als Schollen, Zungen anders als Elb- und Seebutt. Der Ruf: „Bütt, labendige Bütt!“ kann ein musikalisches Ohr zur Verzweiflung bringen, wenn er sich stundenlang von Minute zu Minute in immer gleichem Tone wiederholt.

Wird die Waare rasch verkauft, so gönnt sich die Händlerin das Vergnügen einer Unterhaltung mit solchen Begegnenden, von denen sie weiß, daß sie ihr Rede stehen. Ein passender Ort zu solcher Zwiesprach findet sich immer, namentlich mitten in der belebten Stadt. Namentlich verweilen die Händlerinnen gern auf den zahlreichen Brücken, welche über die vielen Fleethe führen, und von denen die meisten stattliche und hohe Steingeländer tragen. Hier giebt es gewöhnlich auch an heißen Tagen etwas Luftbewegung, auf der Wasserstraße selbst gleiten Nachen, Jollen, Schuten, Torfewer und andere Fahrzeuge hin und her, und diesem und jenem Schiffer läßt sich ein Scherzwort zurufen, das sicher nicht unerwidert bleibt. Auch gewähren die meisten Brücken hübsche Aussichten, oder man kann die zahlreichen Vorüberwandelnden mustern und sie der schonungslosesten Kritik unterziehen. Und gewöhnlich sind ganz besonders die Fischverkäuferinnen ebenso beißende Kritiker, als sie das Anpreisen ihrer eigenen Waare meisterhaft verstehen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_261.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)