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ergeben. Von eben so vorzüglicher Organisation, wie ihre Muskeln und Sehnen, ist auch das Geruchsvermögen der Gemsen: sie wittern den Jäger, der im Winde steht, auf ungeheuere Entfernungen und gebehrden sich dabei viel unruhiger, als wenn sie ihn wirklich zu Gesicht bekommen. Verirrt sich ob der Flucht eine Gemse an eine Felswand, wo sie weder vor- noch rückwärts mehr kann, so bleibt sie nicht etwa rathlos stehen, sie mißt kurz entschlossen den nächsten Absprung, versucht das Unmögliche möglich zu machen, und ein Sprung in den Abgrund, in welchem sie rettungslos zerschellt, ist das Ende. Ist der Jäger das einzige sich ihr darbietende Hinderniß, um auf schmalem Felsbande, das zum Abgrunde führt, wieder umzukehren, so schießt sie pfeilschnell zurück, und der Jäger mag sich nur schnell auf den Bauch legen, wenn er nicht von dem heranstürmenden Thiere in die Tiefe geschleudert werden will. Thut er dies aber, so setzt das Thier einfach über ihn weg. Selbst im Hinunterstürzen verliert die kluge Gemse nicht ihre Geistesgegenwart, und wenn sie mitten im Falle noch einen Vorsprung an der jähen Felswand bemerkt, so rudert sie mit Leib und Füßen und beschreibt im Sturze eine krumme Linie, um die Zacke zu erreichen, was ihr auch nicht selten gelingt.

So ist das Thier beschaffen, dem die Menschen, die der Titel unseres Aufsatzes bezeichnet, bis in seine letzten Verstecke auf schwindelnden Pfaden nachstellen, es trotz seiner wunderbaren Eigenschaften, trotz seiner Windesschnelligkeit, Scheuheit und schlauen Vorsicht oft dennoch überlisten und als gute Beute zu Thal schleppen, freilich aber fast immer schließlich ob des verwegenen Spieles den jedesmaligen Einsatz, das Leben, einbüßen. So wurden die zwei berühmtesten Gemsjäger des Glarnerlandes, David Zricki von Mollis, und Kaspar Blumer von Glarus, nachdem sie viele Hunderte von Gemsen erlegt, trotz ihrer staunenswerthen Kaltblütigkeit und Klettergewandtheit zuletzt die Opfer ihres zur dämonischen Leidenschaftlichkeit hinaufgegipfelten Jagdtriebes. Der Erstere wurde sechsunddreißig Wochen lang vermißt, und Niemand wußte, ob der siebenundfünfzigjährige, rüstige Mann noch am Leben sei. Endlich wurde sein von Geiern und Füchsen zernagtes Gerippe auf einem Hügel der steilen Auernalp gefunden. Der Mann mußte furchtbar gelitten haben; denn nach einem gebrochenen Fuße und der Lage des Ortes, wo man seine Reste fand, zu schließen, hatte er sich nach einem Sturze noch weit hergeschleppt und war nach vergeblich abgefeuerten Nothschüssen dem Hunger und der Kälte erlegen. Blumer stürzte am Vorderglärnisch über eine ungeheuere Felswand, wo sein zerschellter Leichnam erst im darauffolgenden Sommer aufgefunden wurde. Bekannt ist die Geschichte von dem Berner Jäger, der auf dem vielbesuchten Grindelwaldgletscher in eine verdeckte Eisspalte fiel, ohne Schaden zu nehmen auf den trockenen Grund gelangte und durch die finstere Höhlung, welche dem festen Boden nach ein dem Gletscher entfließender Bach gebildet, mit unsäglichen Mühen an den Rand der Eiswüste gelangte, und zwar an eine Felswand, über die der Bach sich als Wasserfall stürzte. Solche Glücksfälle sind aber selten, und schon öfter hat es sich begeben, daß ein auf ähnliche Art Verunglückter Stunden, ja Tage und Nächte lang in solchen Gletscherspalten aushalten mußte, bis es den Jagdgenossen gelang, ihn mittelst Stricken und Stangen wieder an’s Tageslicht zu fördern. Glücklicher als die Meisten war der berühmte und berüchtigte Gemsenwürger Marcus Colani, von Pontresina im Bündnerlande. Dieser seltsame und unheimliche Geselle, der sich ein ganzes ungeheures Jagdrevier usurpirt hatte, in welches kein anderer Jäger sich so leicht hinwagte und in dem er ganze Rudel halbzahmer Gemsen hegte, erlegte bis zu seinem sechsundsechzigsten Jahre nicht weniger denn 2800 Stück dieser Thiere, eine Anzahl, die von keinem andern Jäger vor und nach ihm erreicht worden ist. Dieser Jägerfürst starb ruhig in seinem Bette, freilich in Folge der Strapazen eines mit dem Naturforscher Dr. Lenz unternommenen, von dem Letztern sehr romantisch geschilderten Jagdabenteuers.

Die angedeuteten Gefahren sind jedoch nicht die einzigen, die den Jäger auf seinen verwegenen Fahrten bedrohen. Der fürchterlichste Feind des Jägers ist unstreitig der Nebel, der ihn oft, wenn er sich in die höchste Gletscherwildniß verstiegen hat, plötzlich überfällt und bei seiner außerordentlichen Dichtigkeit ihm kaum einen Blick vor- oder rückwärts gestattet. Da mag’s denn allerdings schlimm bestellt sein um den Mann, der, über schwindelndem Abgrunde hinschreitend, sich tappend auf dem kaum fußbreiten Pfade zurückfinden, oder auf dem weiten Gletscherfelde die vom Schnee trügerisch versteckte Spalte ausmeiden muß. Das ist buchstäblich ein Gang auf der schmalen Grenze zwischen Tod und Leben, und es gehört all die Kaltblütigkeit und der kaum begreifliche Spürsinn dieser an den rauhen Brüsten der Gebirgsnatur aufgesäugten Bursche dazu, um sich aus all diesen Fährlichkeiten herauszuwinden. Häufig suchen sie aber in solchen Fällen eine nothdürftig sichere Stelle auf und bringen, mittelst des Strickes, den sie immer mit sich zu führen pflegen, an eine Felszacke festgebunden, um nicht im Schlafe in den Abgrund zu stürzen, die Nacht in der nächsten Nachbarschaft der Geier und Adler zu. Das ist aber ein gar kühles Nachtlager auf die magere Suppe, die er sich in der mitgeführten eisernen Kelle bereitet hat, und gar oft muß sich der Jäger mittelst stundenlangen Umherlaufens oder dadurch, daß er einen schweren Stein hin und her trägt, vor dem Erfrieren schützen. Unser Bild stellt einen Berner Jäger dar, dessen Erlebnisse unter seinen Freunden und den Fremden, denen er oft als Führer diente, lange Zeit vielfach besprochen wurden. Auch er hatte sich, um nicht in den Abgrund hinunterzustürzen, in der Nacht an einen Fels angebunden, und seine Schilderung, wie er sorglos an der jähen Felswand sein Nachtquartier bezogen und trotz der Gefährlichkeit seines Bettes im Schatten der vom Monde beleuchteten Felsen ruhig entschlummert war, hatte etwas so Grausiges, daß man förmlich Athem schöpfte, wenn er seine Erzählung beendete.

Auch die nachfolgenden, in größeren Kreisen bisher noch nicht bekannt gewordenen Abenteuer dürften einen Beitrag für die Gefährlichkeit dieses Jägerhandwerks liefern.

„Ich ging,“ – so erzählte vor wenigen Tagen der ehemalige Gemsjäger und tüchtige Bergkundige Matthias Hefti von Glarus dem Verfasser dieser Zeilen – „als fünfzehnjähriger Bube ohne Vorwissen meiner Eltern nach der Bächialp (steiles Gebirge im Glarnerlande), um Gemsen zu jagen. Meine Mühe und mein Suchen waren vergeblich: die schlauen Thiere hatten mich gewittert, ich hatte ihnen den Wind nicht abzugewinnen gewußt und als ich den Kamm des Gebirges keuchend erreichte, da hatte ich das Vergnügen, ein kleines Rudel von fünf Stück wie der geschmierte Blitz so schnell den jenseitigen Abhang hinunterjagen zu sehen. ’s ist ein verfluchtes Ding, solches Nachsehen, und in wahrhaft lebensgefährlicher Stimmung trat ich, da der Abend schon nahte, meinen Rückweg an. Er führte mich zuerst eine Runse hinunter, wo das bröckelnde Gestein jeden Augenblick unter meinen Füßen wich, so daß ich im Grunde eher hinunter rollte, als ging, und dann auf ein nicht gar zu steil abgedachtes Plateau, auf dem zum Troste, wenn etwa üble Witterung den ganzen Heimweg unmöglich machen sollte, eine einsame Sennhütte stand. Den Ort hatte ich mir beim Hinaufsteigen genau gemerkt, und es war mir nicht entgangen, daß, nach den Blutspuren und andern Ueberresten zu schließen, da vor wenigen Tagen erst ein Schwein geschlachtet worden sein müsse. Dummer Weise, aber hatte ich die Hütte gleichwohl leer gefunden; sie mußte von den Insassen kürzlich erst verlassen worden sein, wie das auf den Alpen etwas eben nicht Außergewöhnliches ist. Wie ich nun so, in allerhand unerfreuliche Gedanken vertieft, die Halde hinabschlendere und gegen die verlassene Hütte hinschaue, da taucht aus dem hereinbrechenden Dunkel plötzlich eine niegesehene Figur vor mir auf, aus deren rundem Kopfe zwei Augen wie feurige Kugeln hervorleuchten. Freundliche Absichten schien das nicht eben heimelig aussehende Ding nicht zu haben, denn just war’s eben noch hell genug, daß ich die langen, schneeweißen Fangzähne bequem betrachten konnte, die es mir zum Willkommen vorwies. Sage Dir, Freund, es war ein kritischer Moment das, und meine jungen Beine wurden ordentlich dünn unter mir. Lache nur! ich schwöre darauf, Du hättest unter ähnlichen Umständen von Deinen Gehwerkzeugen den flinkesten Gebrauch gemacht. Hätt’s auch gethan, wenn nur der Rückweg nicht so mörderlich steil gewesen wäre, daß an ein schnelles Fortkommen nicht zu denken war. Na, die Verzweiflung hat wohl schon manchen Helden gemacht, und so reiße ich denn nicht ohne beträchtlichen Schlotter meine Büchse von der Schulter, ziele scharf nach der Brust des fortwährend die Zähne fletschenden Thieres, drücke los und sehe, wie die Bestie ein paar Mal über und über schlägt. Der Schuß hallt wie ein Donnerwetter an den Felswänden hinter mir wieder, habe aber keine Zeit, lange darauf zu horchen, denn in das hübsche Rollen mischt sich ein so verfluchtes Geheul, daß mir die Ohren noch heute davon gellen. Weder vor noch hinter mich sehend, wie ein vom Geier

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_268.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)