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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 18.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Grindelwald-Gletscher.
Von A. Diezmann.


„Lieber Herr, ich bitte Sie, küssen Sie die Dame hier nicht,“ sagte der Führer ängstlich in der Grotte des oberen Gletschers zu Grindelwald, als er zufällig sich umdrehte und sah, daß ich den Arm um Ella legte und ihr eben einen Kuß geben wollte, weil sie, entzückt durch den Anblick der blauen Eiswölbung, mir zugeflüstert hatte: „gefrorner Himmel!“

„Mann,“ antwortete ich lächelnd und neugierig, „was geht es Sie an, ob und wo ich die Geliebte küsse?“

„Es ist gefährlich hier,“ sagte er kleinlaut.

„Für wen gefährlich?“

„Für die Dame und auch für Sie selbst.“

„Guter Mann, sorgen Sie sich nicht; nur der erste Kuß war für uns gefährlich.“

„Ich beschwöre Sie, küssen Sie die Dame hier nicht!“ bat der Führer dringender und ängstlicher, da er sah, daß ich mir den Kuß doch nehmen wollte. Er faßte mich sogar an, um mich von Ella wegzuziehen, die stilllächelnd meinen Arm drückte, und er flüsterte mir geheimnißvoll zu: „die Eisgeister …!“

„Eisgeister?“ fiel Ella ein. „Märchen? Mann, erzählen Sie!“

„Hier, wo die Geister hausen und herrschen, darf man von ihnen nicht reden,“ sagte der Führer.

In diesem Augenblicke hörte man ein dumpfes Donnern, und ein leises Beben ging durch die gewaltige Eisgrotte.

„Was ist das?“ fragten wir Beide gleichzeitig.

„Es fiel oben eine Lauine,“ antwortete der Führer. „Lassen Sie uns eilen. Die Geister zürnen bereits. Kommen Sie schnell! Leicht reißt ein Spalt durch diese Wände, und wir sinken in die Tiefe hinab, oder die Wölbung stürzt über uns zusammen und begräbt uns unter ihren Trümmern. Die Eisgeister sind gar mächtig und, wenn sie zürnen, grausam.“

„Nun, Führer,“ sagte ich, um den ängstlichen Mann zu beruhigen, „ich will den Kuß, den Sie fürchten, aufsparen unter der Bedingung, daß Sie uns erzählen, was Sie von den Eisgeistern wissen. Sagen Sie ja, sonst küss’ ich die Dame auf der Stelle und vor Ihren Augen.“

„Mein alter Vater weiß mehr von den Geistern der Gletscher als ich,“ antwortete er, „und wenn Sie es wünschen, wird er Abends zu Ihnen in das Wirthshaus kommen und Ihnen erzählen.“

„Gern. Eines nur sagen Sie uns: warum ist gerade das Küssen hier so gefährlich?“

„Das ist eine lange Geschichte, die Ihnen mein Vater erzählen mag,“ sagte der Führer, und erst als wir den gewaltigen Eisbau verlassen hatten und wieder draußen im hellen Sonnenscheine standen, setzte er hinzu: „Die Jungfrau duldet nicht, daß in ihrem Bereiche ein Mann und ein Mädchen oder eine Frau einander küssen.“

„Welche Jungfrau?“

„Das wird Ihnen auch mein Vater sagen.“

„Aus jungfräulicher Sittsamkeit oder aus Neid?“

„Das weiß ich nicht.“

Der Führer hatte unsere Neugierde in hohem Grade erregt, und wir freuten uns auf die Erzählung des Alten, die er uns versprochen hatte.

Abends, als wir im Garten des Hotels zu Grindelwald saßen und den Thee tranken, den Ella mit eigener Hand bereitet, nachdem wir lange in den parkähnlichen Anlagen umhergegangen waren, um den Eindruck der großartigen Natur umher voll auf uns wirken zu lassen, erschien unser Führer mit seinem Vater, einem hochbetagten Manne mit gletscherweißem Haar und Bart, der sich zwar auf einen Stock stützte, sonst aber noch ziemlich rüstig aussah. Das Feuer in seinen klugen Augen war noch nicht erloschen, aber die Runzeln auf seiner Stirn und seinen Wangen deuteten darauf hin, daß er in seinem langen Leben viel und viel Schweres erfahren habe. Er nahm unbefangen bei uns Platz, während sein Sohn sich wieder entfernte, nachdem er uns den Alten vorgestellt hatte, und leerte das Glas Wein, das wir ihm boten, auf unsere Gesundheit aus.

„Gott sei gedankt, daß ich es trinken kann auf Ihr Wohl,“ sagte er, „daß Sie der Warnung meines Sohnes nachkamen und die liebe Dame da in dem Gletscher nicht küßten.“

„Sie glauben also, daß es wirklich gefährlich gewesen wäre? Sie glauben an Geister in Ihren Eis- und Schneebergen? Sie haben doch lange in der Welt gelebt und gewiß viel gesehen, erfahren und gelernt.“

„Ich habe auf der Wanderung durch mein langes Leben meinen Glauben nicht verloren, wie so viele Andere; ja weil ich viel gesehen und erfahren, habe ich erst recht glauben gelernt. Lieber Herr, es giebt wunderbare Wesen und Dinge auch bei uns.“

„Solche „wunderbare Wesen und Dinge“, Götter und Geister, kommen und gehen wie die Menschen, von denen sie erdacht worden sind; nur der ewige Gott bleibt.“

„Unser Herr Gott aber, denke ich, wäre nicht so groß und allmächtig, wie er ist, wenn er nichts erschaffen hätte, als was wir Menschen sehen. Das ist gewiß nur der kleinste Theil. Freilich sagen die Leute: was man nicht sieht, ist nicht. Ich habe aber einmal durch ein großes Fernrohr nach dem Himmel und da Sterne gesehen, die dem klarsten Auge nicht sichtbar und doch da waren.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_273.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)