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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Schneewildniß gekommen, aber die Zunge war ihm wie gebunden. So folgte er denn der Gestalt schweigend, wie lange, wie weit, wußte er nicht zu sagen, bis er sich endlich an einer Art Pforte befand, auf die der Mond seine hellsten Strahlen warf und die auf blauschimmernden starken Pfeilern zu ruhen schien. In diese offene Pforte schritt die Gestalt hinein und zwischen den blauen Pfeilern drehte sie sich noch einmal um. Auch streckte sie dem Nachfolgenden die Hand entgegen, als wünsche sie, daß er dieselbe ergreife und sich so geleiten lasse. Es überkam ihn aber vor dem geheimnißvollen Eingange mit einem Mal ein Zagen und Bangen; er gedachte unwillkürlich an alle schauerliche Sagen und Märchen, die man ihm erzählt hatte, und wie betend sprach er halblaut vor sich hin: „Herr Gott, stehe mir bei!“

Da fuhr ein betäubendes Donnergekrach durch das Eis, daß es unter seinen Füßen zitterte und wankte; mit dumpfem Getön stürzten auf mehreren Seiten zugleich Lauinen nieder; der Mond verbarg sich hinter einer schwarzen Wolke; die blaue hohe Pforte und die weiße Gestalt verschwanden.

Eine lange Weile stand Adler-Fritz wie betäubt, sobald er aber wieder zum vollen Bewußtsein gekommen war, sah er sich forschend um, ob er die Jungfrau irgendwo wiederfinde. Wie er aber auch die Blicke suchend umhersandte, nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken, ebensowenig von dem eigenthümlichen Blitzen und Flimmern am Boden, das ihm so seltsam erschienen war. So mußte er endlich an die Heimkehr denken. Als er sich wandte, um den, wie er glaubte, nur kurzen Weg nach seinem Häuschen anzutreten, erschien ihm die ganze Umgebung fremdartig und er erinnerte sich nicht, diese Felsenzacken, die drohend wie Riesenwächter um ihn und das „Eismeer“ her standen, jemals vorher so gesehen zu haben. Und wie war er auf den Gletscher selbst gekommen? Nur seiner sehnigen Kraft konnte es möglich werden, ihn ungefährdet hinüber zu bringen über die Eismassen mit den zahlreichen klaffenden Spalten, die hier und da wohl gar eine leichte Schneedecke dem Auge verbarg, welche einbrach, sobald er den Fuß darauf setzte.

Wie ein Träumender, er wußte selbst nicht wie, kam er in sein Haus zurück, und in wachem Traum verbrachte er den noch übrigen Theil der Nacht. Immer stand die hohe weiße Gestalt mit den freundlich blickenden leuchtenden Augen und der winkenden Hand vor seiner Seele. Wer war sie? Was wollte sie von ihm? fragte er sich wohl hundert Mal, ohne daß er sich eine nur irgend befriedigende Antwort darauf zu geben vermochte. Mit dem ersten Morgengrauen nahm er seinen Stutzen, um wo möglich dorthin zu wandern, wo ihm in der vergangenen Nacht die Wunderbare erschienen war, und vielleicht eine Spur von ihr, oder doch die Stelle zu finden, wo sie seinen Blicken entschwunden war. Mit einer selbst bei ihm seltenen Kühnheit ging er über die Gletscherfläche nach allen Richtungen hin, wo er immer nur den Fuß aufsetzen konnte, aber er sah nichts als eine weite Oede von Schnee und Eis, nicht einmal Spuren von seiner eigenen nächtlichen Wanderung, und blitzte und funkelte es ja einmal vor ihm, wie in jener Nacht, so überzeugte er sich alsbald, daß es nur die Sonnenstrahlen waren, die sich in Eiskrystallen brachen. Er trat an manche Eisspalten, die im schönsten Blau erglänzten, aber nirgends zeigte sich etwas, das der Pforte und den Pfeilern ähnlich gewesen wäre, wo er die wunderbare Jungfrau das letzte Mal gesehen. Auch an leichten Morgennebeln fehlte es nicht, die von dem Boden aufstiegen und um die zackigen Höhen sich legten, aber zu einer menschenähnlichen Gestalt formte sich keiner. Je höher die Sonne stieg, um so fester mußte sein Glaube werden, daß die Nacht und der Mondschein ihn getäuscht hätten, und endlich verspottete er sich selbst darum, daß er einen Augenblick das, was er gesehen, für etwas Wunderbares und das Wunderbare für wahr und wirklich hatte halten können.

Es mochte Mittag sein, als er Bäteli’s Sennhütte vor sich liegen sah, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, zu diesem Häuschen hin zu gehen und mit dem Mädchen ein halbes Stündchen zu verplaudern. Als Bäteli den stattlichen Jäger so unerwartet in ihre Hütte treten sah, erschrak sie so sehr, daß sie den Milcheimer, den sie trug, beinahe hätte fallen lassen. Kaum vermochte sie den freundlichen Gruß freundlich zu erwidern, und abwechselnd überflog tiefe Blässe und hohe Röthe ihre Wangen. Sie war schlanker und zarter gebaut als die andern Mädchen ihres Standes und der Umgegend. Ihre Glieder sahen so fein aus, daß man auf den ersten Blick zweifeln mußte, ob sie die schwere Arbeit verrichten könnten, die von ihr verlangt wurde. Ihr Gesicht war mehr länglich als rundlich, mehr blaß als roth, aber von der Sonne gebräunt. Im Profil namentlich hatte es einen fast edlen Schnitt. Die dicken Flechten ihres braunen Haares fielen ihr weit auf den Rücken herab. Das Auge war hellbraun wie eine eben gereifte Nuß und voll sanfter Freundlichkeit. Das kurze schwarze Mieder legte sich wie liebkosend um den schlanken Leib, und das blendend weiße Hemd verrieth keinen überquellenden Busen, wie bei den meisten andern Mädchen dort. Die Hände waren zwar hart von vieler und schwerer Arbeit, aber auffallend klein und, wie die nackten Füße, zierlich und fein geformt. Der Ton ihrer Stimme endlich klang voll, aber lieblich weich und sprach wunderbar zu den Herzen der Hörer.

„Sage mir, Bäteli,“ fragte der Adler-Fritz, nachdem sie ihm auf sein Gesuch Milch und Brod vorgesetzt hatte, „fürchtest Du Dich nicht so ganz allein hier oben in dieser Einsamkeit?“

„Fürchten?“ antwortete das Mädchen unbefangen. „Menschen kommen nur selten auf diese stille Höhe, böse gar nicht, denn solche wagen sich nicht hierher, wo sie Gott näher und mitten in seiner Herrlichkeit sein würden. Meine Kühe folgen mir willig, denn jede kennt genau meine Stimme, wie ich den Klang ihres Glöckchens. Ein Adler fällt mich nicht an, und vor der Macht des Bösen schützt mich der liebe Gott, zu dem ich bete.“

So kindlich einfach diese Worte waren, machten sie doch einen unerwartet tiefen Eindruck auf den Jäger, der sehr ernst wurde, aber nichts, darauf erwiderte. Sie versetzten ihn plötzlich wieder in die vergangene Nacht und erinnerten ihn daran, daß ihm die wunderbare Jungfrauengestalt verschwunden, als er – gebetet hatte. Sollte sie ein böser Geist gewesen sein, eines jener unheimlichen Wesen, die, wie sein alter Vetter ihm gesagt, das Licht des Tages scheuen, in der Nacht aber erscheinen, um Menschen zu verlocken und zu berücken? Wie ein entfesselter Strom überflutheten ihn beängstigende Gedanken und Vermuthungen; darum hielt es ihn nicht länger in der engen Sennhütte, sondern trieb und drängte ihn gewaltsam hinaus in das Licht der Sonne und die freie Luft. Er stand rasch auf und zum ersten Male reichte er dem Mädchen die Hand. Dann blickte er sie lange an und in wahrhaft bittendem Tone sagte er zu ihr:

„Vergiß nie zu beten, Bäteli, und bete auch, daß Gott – mir gnädig sei.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er hinweg, Bäteli aber blieb lange in der niedrigen Thür der Hütte stehen und schaute ihm verwundert nach. Sie verstand weder sein Benehmen, noch seine Worte, doch hatte es ihr wohlgethan, daß er sie aufgefordert, auch für ihn zu beten. Sie durfte ja nun an ihn denken und sie nahm sich vor, recht oft und recht innig für ihn zu Gott zu beten.

Die Last der Gedanken aber, die der Adler-Fritz von ihr mit sich hinwegnahm, wurde auch im Freien und im Sonnenscheine nicht leichter. Vor Allem suchte er bei sich die Möglichkeit zu bekämpfen, daß die herrliche Frauengestalt, die ihm erschienen, ein böser Geist gewesen sein könne. Gedachte er der zauberischen Augen, mit denen sie ihn angeblickt, so sträubte sich sein Herz gewaltig, an jene Möglichkeit zu glauben. Wenn er sich auch eingestehen mußte, daß ein gewisses unheimliches Feuer ebenfalls aus jenen Augen geblitzt hätte, so sagte er sich doch zu wiederholten Malen, böse Geister, die zu verlocken und zu berücken suchten, könnten nicht lieben. Und daß Liebe aus den Augen der Jungfrau wie ein warmer Sonnenstrahl ihn berührt hatte, fühlte er noch in diesem Augenblicke. Ach, er wußte leider noch nicht, daß kein böser Geist gefährlicher berückt als die Liebe, die viel tausendmal häufiger betrügt, als beglückt! Das schließliche Ergebniß seines langen Sinnens und Grübelns war indeß der Vorsatz, in der nächsten Nacht nicht wieder, wie er es sich doch vorgenommen gehabt, an das Eismeer hinauf zu gehen und die Jungfrau nochmals zu suchen.

Zwei Nächte hindurch bezwang er in der That sein Herz, das ihm, wie die Stimme der Versuchung, unaufhörlich zuflüsterte, die schöne Unbekannte erwarte ihn sicherlich, und wenn er feig daheim bleibe, verscherze er irgend ein Glück, das sie ihm zugedacht. Zum Wenigsten gelte es ein wichtiges Geheimniß, weil sie ihn in der Nacht und an einem so ungewöhnlichen Orte aufgesucht habe. In der dritten Nacht aber, als der Mond mit ganz ungewöhnlichem Glanze schien, konnte er dem Drängen seiner sehnenden Seele nicht widerstehen. Er verließ sein Haus und ging den etwa halbstündigen Weg von da nach der Gletschergrenze hinauf. Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_275.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2020)