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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Schlaf und Traum.

Von Dr. M. J. Schleiden.
Nr. 1.


               In den Räumen
Dieser Wunderwelt ist eben
Nur ein Traum das ganze Leben,
Und der Mensch, das seh’ ich nun,

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Träumt sein ganzes Sein und Thun,

Bis zuletzt die Träum’ entschweben.
Was ist Leben? Hohler Schaum,
Ein Gedicht, ein Schatten kaum.
Wenig kann das Glück nur geben,

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Denn ein Traum ist alles Leben,

Und die Träume selbst ein Traum.

Die Sonne sinkt, und Dämmerung bedeckt die Lande. Der Mensch hat nach gesunder Tagesarbeit im lebhaft bewegten Gespräche mit dem Freunde Erholung gesucht und gefunden. Er verließ ihn und wandelt noch, die letzten Reden in Gedanken erwägend, am Ufer des Baches hinab. Im dämmernden Schatten der Erlen winkt ein trauliches Plätzchen zur Ruhe, er setzt sich. Allmählich werden seine Gedanken unklarer, verworrener; fremde Bilder steigen auf, flattern vorüber oder mischen sich in den Gedankengang, den er vergebens festzuhalten sucht. Das Augenlid senkt sich, wird noch einige Male krampfhaft aufgerissen, um sich endlich auf längere Zeit zu schließen. Ferner tönt das Abendlied der Vögel, leiser und leiser rauscht der Bach – endlich tiefe Stille. Das Haupt sinkt auf die Brust, ein Muskel nach dem andern erschlafft, und alle Glieder strecken sich bewegungslos auf den weichen Rasen hin.

Ruhiger schlägt das Herz, langsame tiefe Athemzüge heben in regelmäßigem Schwellen die Brust. Er schläft. – Er schläft? – Wer schlaft denn? – Seltsam, daß diese Frage, die doch so natürlich nahe liegt, noch von Niemand scharf und bestimmt aufgeworfen und also auch nie beantwortet ist. Wer schläft, wer ruht denn? Der Mensch? Etwa sein Körper? Das ganze, verwickelte Muskelspiel des Athmungsprocesses, der rastlose Schlag des Herzens, alle die unzähligen Bewegungen, in denen sich Stoffwechsel und Ernährung vollzieht, sie ruhen nicht. – Oder schläft die Seele? – So seht nur: der Arm, dann der ganze Körper des Schläfers zuckt eben in einigen unvollkommenen Bewegungen, und mit leisem, gepreßtem, aber deutlich vernehmbarem Tone entwinden sich die Worte: „Theurer Freund!“ den träge widerstrebenden Lippen. Wir sehen, daß Bilder, Gefühle, Vorstellungsspiele des wachen Lebens den Schläfer fortwährend beschäftigen. – Wer, was schläft denn eigentlich am Menschen?

Fragen wir unsere Weisen, so finden wir uns rathlos.

Empedokles nennt die wache lebendige Kraft im Menschen ein Feuer, welches sich im Schlafe nur zum Theil, im Tode ganz vom Körper trennt. Purkinje meint, Schlafen und Wachen können nur dem psychischen Leben eigenthümlich sein. Richtiger sagt schon Anaxagoras: „Der Schlaf ist eine rein körperliche Erscheinung.“ Johannes Müller sagt: „Der Schlaf ist eine Erscheinung, welche blos das animalische Leben betrifft. Man kann auch sagen, Schlaf und Wachen beruhen auf einer Art Antagonismus zwischen dem organischen und animalischen Leben.“ Ich glaube kaum, daß hierdurch Einer aufgeklärt wird. Auch wenn Valentin erzählt: „Die gewissen (wenn er nur sagte, welchen?) Nervengebilden nothwendige Erholung führt zu den Erscheinungen der periodischen Ruhe, die wir unter dem Namen des regelrechten Schlafes zusammenfassen,“ so scheinen mir das Worte zu sein, aus denen wir eben nichts lernen, und wohl klarer sagt er an einem anderen Orte: „von der materiellen Ursache des Schlafes wissen wir nichts.“

Und so hat Niemand die Frage bestimmt gestellt und beantwortet, und wenn ich es jetzt wage, eine Antwort zu versuchen, so bedarf ich der Nachsicht für einen ersten Versuch. Was schläft? Besteht doch das Leben nur in Bewegungserscheinungen der kleinsten materiellen Theile, und warum sollten diese Bewegungen überhaupt jemals zur Ruhe kommen müssen? Sehen wir nicht die großartigsten aller Bewegungen, die der Planeten und Sonnensysteme, seit Millionen von Jahren rastlos in gleicher Weise fort und fort von Statten gehen, ohne daß sich, soweit unsere Wissenschaft bis jetzt reicht, jemals die Forderung des Ausruhens geltend machte? Warum ist das bei den Bewegungen, die wir in ihrer Gesammterscheinung Leben nennen, nicht auch so? weshalb kann es nicht so sein?

Zunächst können wir die bewegenden Kräfte in’s Auge fassen. Die Bewegungen im Sonnensystem und noch weiter in allen Himmelsräumen hängen unmittelbar von einer und derselben Grundkraft, der Gravitation, ab, für welche die Verschiedenheiten der Materie keine Bedeutung haben. Ob ein Planet aus diesen oder jenen Stoffen zusammengesetzt ist, gilt für die Schwerkraft ganz gleich; für sie ist nur das absolute Gewicht des Körpers und sein Umfang (das Product aus beiden nennen wir seine Masse) von Bedeutung. Ist die Masse zweier Körper gleich, so stehen beide in dem gleichen Verhältniß zur Schwerkraft, mag der eine aus Eisen, der andere aus Gold bestehen, der eine die rothen, der andere die blauen Strahlen des Sonnenlichts zurückwerfen, der eine heiß, der andere kalt sein. So ist es aber keineswegs bei den organischen Körpern an unserer Erde. Außer der Masse der wirkenden Theile hängen diese noch von einer großen Anzahl anderer Eigenschaften und Verhältnisse ab. – Wenn ein organischer Körper durch Ausdünstung eine gewisse Menge Stoff verliert, so kommt es nicht allein darauf an, daß dieselbe Masse wieder ersetzt werde, es muß vielmehr die Ersatzmaterie auch ganz bestimmte chemische und physikalische Eigenschaften, bestimmte Temperatur und so weiter haben, wenn sie geeignet sein soll, in die Lebensbewegungen als ein die Bewegung unterhaltender Theil wieder einzutreten. – Die Ursache ist die, daß die letzten Gründe der Bewegung hier in Kräften liegen, für welche die Masse nicht das allein Bestimmende ist. – So werden wir denn weiter auf diejenigen Verschiedenheiten der Stoffe geführt, welche geeignet sind, die auf den zuletzt erwähnten Kräften beruhenden Bewegungen in’s Spiel zu setzen. Auch hier können wir vorläufig die unorganische Welt in’s Auge fassen.

Welche lebhafte, aufrührerische Bewegung entsteht nicht, wenn wir die beiden Brausepülverchen, die so lange friedlich neben einander lagen, in einem Glase mit Wasser zusammenschütten! Alles wirbelt in eigenthümlichem Aufruhr durch einander, aber nach und nach wird die Bewegung langsamer, und endlich ruht die ganze Flüssigkeit, wie in Todtenstarre. Die Kohlensäure entwich; es sind keine Stoffe mehr vorhanden, die unter gegebenen Verhältnissen sich trennen müßten, keine Stoffe, die das Streben hätten, sich einander zu nähern und zu verbinden, keine Stoffe, die Bewegung, das heißt chemisches Leben, unterhalten könnten.

Solche Erscheinungen treten nun im Organismus in noch ungleich verwickelterer Weise auf. Jeder Theil, der sich hier bewegt, thut dies nur, weil und in so weit er seine bestimmte Zusammensetzung aus gar mannigfachen ganz bestimmten Elementarstoffen besitzt und mit anderen ebenso bestimmt zusammengesetzten Theilen in Berührung steht. Ist seine Zusammensetzung oder die seiner Umgebung eine andere geworden, so hört seine Bewegung auf oder nimmt vielleicht eine für den ganzen Organismus störende, ja zerstörende Form an. – Jede Bewegung in den einzelnen Theilen hat nun aber durch die bei der Bewegung frei werdende Wärme, durch die dabei erregte Elektricität und ähnliche Vorgänge den unvermeidlichen Erfolg, daß sich die Zusammensetzung der in Bewegung begriffenen Theile ändert, daß dieselben also zu der gesetzmäßig ihnen zukommenden Bewegung untauglich werden. Dadurch kommen sie nothwendig in Ruhe, in der sie so lange verharren, bis durch Zufuhr neuen Stoffes ihre ursprüngliche, normale Zusammensetzung wieder hergestellt ist. Kurz, jede Bewegung irgend eines Organs oder Organtheils nutzt denselben ab, und derselbe geht zu Grunde, wenn er nicht durch einen Ausbesserungsproceß, den wir Ernährung nennen, wieder hergestellt wird. – Abnutzung und Ausbesserung, Thätigkeit und Ruhe sind also für alle Theile eines Organismus gerade so nothwendig, als für irgend eine Maschine, nur mit dem großen Unterschiede, daß wir eine sehr complicirte Maschine gewöhnlich ganz stille stehen lassen müssen, wenn wir irgend einen kleinen Theil ausbessern wollen, während beim Organismus der einzelne Theil ohne Störung der andern eine längere oder kürzere Zeit zum Behufe der Ausbesserung für sich allem stillstehen kann. –

Fragen wir aber nun bei den einzelnen Körpertheilen: „wann und wie lange sind sie thätig, wann bedürfen sie daher nothwendig der Ruhe, um sich zu restauriren?“ so fällt die Antwort sehr gegen die Erwartung aus.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_375.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)