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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

nicht aus den Augen zu verlieren. Soublette, so hieß er, hatte die besten Augen auf dem Schiffe.

„Nun, Mr. Whitman, wir wollen für die Nacht Alles in Ordnung bringen. Falten Sie das Vorbramsegel und riefen Sie das große Segel gehörig; dieses mit dem Fock-, Vorstag- und Schnausegel wird Alles sein, was wir führen können.“

„Soll ich nicht auch den Fock riefen, Sir?“ sagte ich. „Ich fürchte, wir müssen es vor Mitternacht thun, wenn wir es jetzt nicht thun.“

„Wenn Sie glauben, ja!“ war die kurze Antwort.

Während der ersten Wache nahm der Sturm gewaltig zu. Große Regentropfen mischten sich mit dem Gischt, ferner Donner rollte windwärts, und von Zeit zu Zeit fuhren scharfe Blitze durch die Finsterniß. Die Wache unten schlief sorglos, indem sie ihren Cameraden oben vertraute. Aber die Nacht war schrecklich, und Morton, ich und die Deckofficiere verließen das Steuerhaus keinen Augenblick, weil unsere Gegenwart nothwendig war.

Um sechs Uhr Morgens war der Sturm auf seiner Höhe. Der Blitz durchzuckte das Firmament in jeder Richtung, und der Donner übertönte das Heulen des Windes, wie er durch das Takelwerk fuhr. Die See schlug heftig am Bug an und sich von vorn nach hinten überstürzend überschwemmte sie das Schiff bis zum Quarterdeck, wenn es mühsam sein Vordertheil aus dem Wasser erhob.

„Wenn das länger so fortgeht, müssen wir das Focksegel ganz einziehen und uns auf das Hauptstagsegel verlassen,“ sagte ich zum Capitain.

„Ich glaube, wir müssen es in der That,“ bemerkte Morton, „aber sehn Sie, der Tag bricht an. Lassen Sie uns noch ein wenig warten.“ Dann befahl er dem Mann am Steuer, das Schiff etwas abfallen zu lassen.

Bei zunehmendem Tageslicht, und als der Sturm eher zu- als abnahm, war Morton eben in Begriff die nöthigen Befehle zu geben, um das Focksegel sofort einzuziehen, als Soublette von dem Leegangwege, wo er eben stand, plötzlich herüberrief: „ein Segel auf der Leeseite!“

„Ein Segel auf der Leeseite, Sir,“ rapportirte ich augenblicklich Morton, indem ich mich mit der einen Hand an einem Tau hielt und mit der andern den Hut berührte.

„Holt mir schnell mein Fernglas aus der Kajüte,“ sagte der Master zu einem der Matrosen, „ich hoffe, es wird unser alter Bekannter sein.“

„Es ist kein sehr großes Schiff, kaum halb so schwer wie wir,“ rief ich aus, als ich ein halbes Dutzend Stufen an den Wanten in die Höhe geklettert war.

Der Matrose brachte das Glas, und der Capitain, nachdem er seinen Arm um ein dickes Tau geschlungen hatte, um bei dem Schlingern des Schiffes nicht leewärts zu fallen, und nachdem er den Fremden in das Sehfeld gebracht hatte, was in diesem Falle keineswegs eine leichte Aufgabe war, rief aus: „Wahrhaftig, das ist der Preuße, aber übel zugerichtet!“

Andere Gläser wurden nun geholt und Morton’s Meinung von Allen bestätigt.

„Lassen Sie nur das Focksegel stehen, Mr. Brown, wir wollen gleich auf ihn lossteuern.“ Der Black Hawk fiel etwas ab, fuhr tief in den Trog der See und näherte sich rasch dem Fremden; in weniger als einer Stunde waren wir nur eine halbe Meile von ihm entfernt.

Es war leicht auch ohne Hülfe des Fernglases zu sehen, daß die Leute an Bord der preußischen Corvette, welche Besan- und Mittelmast verloren hatte, wie man jetzt, trotz des dicken Wassergischtes, deutlich bemerkte, es auf jede Weise versuchten, einen Nothmast hinten aufzurichten, wozu ihnen aber die Kräfte zu fehlen schienen. Auf diese Weise hofften sie durch das Zustandebringen eines neuen Besansegels das Schiff besser an den Wind zu bringen. Das Focksegel wagten sie nicht einzuziehen, weil ohne alle Segel die Corvette nicht steuern konnte, und so der einzige übergebliebene Mast über Bord gerollt wäre; aber ohne Segel am Hintertheil war es unmöglich sie an dem Winde zu halten, und so fiel sie um gut zwei Striche ab, schnell und hülflos von den Wellen umhergeworfen, obgleich der Mann am Steuer gewiß seine Schuldigkeit that.

In wenigen Minuten waren wir nur drei Kabelslängen von dem Preußen entfernt. Unser Schiff zitterte unter dem Druck der übermäßig gespannten Segel. Der Wind heulte, die See toste, der Donner betäubte, und der Blitz blendete. Der Ewige war gegenwärtig in seiner ganzen Majestät, doch tobte grimmige menschliche Leidenschaft in dem Herzen Morton’s. Schnell sprang er in die Wanten herauf, um sich zu überzeugen, ob kein Segel in Sicht war; befriedigt stieg er wieder herunter. Mit einem Blick auf die hülflose Corvette, der ein zweizölliges Bret hätte durchbohren können, hieß er den Mann am Steuer sich zum Teufel scheeren und ergriff selbst mit kräftigem Arm die Speichen des Rades. Das fremde Schiff lag gerade über Steuerbordhalsee ab, und wir segelten über Backbordhalsee auf jenes zu. Der Regen, der früher von oben herab gefallen war, wurde nun in horizontaler Richtung uns in das Gesicht gepeitscht, so daß alle Gegenstände noch mehr in dem Gischt der See verschwammen. Wir hörten einen Ruf, der aber vom Toben des Sturms fast erstickt war, und sahen, wie die Amazone schnell ihr Ruder nach Lee umlegte. – Zu spät! ein Stoß, ein Krachen und ein Angstgeschrei, welches das Heulen der See übertönte! Unser Bug hatte sie gerade in der Mitte gefaßt, die Reiliegen, Schanzdeckel und einen Theil des Hecks zerschmetternd. Dann hob sich, von einer ungeheuren Welle getragen, unser Vordertheil noch einmal und ritt einen Augenblick gleichsam auf dem berstenden Wracke. Unser Gewicht hatte ihr Rückgrat gebrochen, und die beiden Theile des unglücklichen Schiffes sanken im Nu in die gähnende Tiefe. Da, wo sie verschwanden, erhob sich von Neuem eine große Woge und drückte vollends im Zusammenbrechen die lebenden Wesen, welche etwa noch nach Rettung strebten, unter die Oberfläche hinunter.

Der Stoß hatte mich und fast die ganze Wache zu Boden geschleudert, nur Morton hielt sich krampfhaft am Ruder fest. Die andere Hälfte der Mannschaft, welche unten geschlafen hatte, stürzte erschrocken hervor, und die Verwirrung hörte nicht eher auf, als bis der Capitain, noch immer am Ruder stehend, mit donnernder Stimme die nöthigen Befehle gab. Morton übergab dann einem alten zuverlässigen Matrosen das Rad und eilte schnell auf die Back, während der Zimmermann in den untern Raum eilte, um nach einem etwaigen Leck auszuspähen. Der Schaden war nicht so bedeutend, als wir anfangs geglaubt hatten; das zwölf Tonnen schwere Bugspriet mit seinen Stützbalken war freilich arg beschädigt und in der Mitte abgebrochen, indessen der Bug in Folge der in Kopenhagen angebrachten Verstärkungen nicht so bedeutend lädirt, als man nach der Heftigkeit des Stoßes hätte schließen können. Die dicken, eichenen Bohlen hatten ihre Schuldigkeit gethan und das cutwater so ziemlich geschützt. Bald erschien auch der Zimmermann wieder auf Deck und berichtete, daß der Vordersteven noch gesund sei.

Da sich vom Leck keine Spur zeigte, so klärten wir bald mit Hülfe unserer Aexte das Wrack des Bugspriets und nagelten Theertuch über die Risse der vordern Verschanzung, sodaß wir bald unsern Curs wieder aufnehmen konnten. Als Morton sah, daß die Mannschaft die Köpfe zusammen steckte, um über den letzten Vorgang Bemerkungen einzutauschen, beorderte er die eine Hälfte wieder unter Deck und wies der andern solche Arbeiten an, daß die Leute nicht gut zusammen sprechen konnten. Dann rief er mich in eine Ecke des Quarterdecks, machte einige Bemerkungen über den jetzt sichtbar abnehmenden Sturm und sagte dann: „Charley, Sie sind der Einzige an Bord, der meine Handlungsweise am heutigen Morgen vielleicht richtig zu würdigen versteht, Sie allein kennen die Motive einer That, die allen Andern ein unglücklicher Zufall scheinen muß; ich bitte, nein, ich fordere Ihr unverbrüchliches Stillschweigen; das Gesetz kann mir nichts anhaben; bedenken Sie, daß ich Ihr Capitain bin und daß die Bestimmungen des Congresses meine Stellung unangreifbar machen.“ Hiermit wandte er sich ab, nahm gleichgültig sein Fernrohr und lugte am Horizont herum, ob nicht vielleicht Segel in Sicht seien. – In gedrückter Stimmung legte ich mich an die Reilieg und – habe bis heute geschwiegen über eine That, die Eigennutz und Rache geboren und deren Opfer nun auf immer von den rollenden Wogen bedeckt werden.[1]


  1. Obwohl wir die Verantwortlichkeit für obenstehenden Artikel nicht übernehmen können, so glaubten wir doch im Interesse der bis jetzt noch unaufgeklärten furchtbaren Katastrophe diese Darstellung, die uns aus gut empfohlener Hand zugeht, der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten zu dürfen. Wie weit sie der Wahrheit entspricht, können wir in Leipzig unmöglich ermitteln, wir bemerken nur, daß unsere redactionellen Bedenken durch Zuschriften der gewichtigsten Art beschwichtigt wurden. Das unglückliche Schiff ist wirklich übersegelt worden, wie die spärlichen aufgefundenen Fragmente des Wracks deutlich beweisen, denn wenn in so kurzer Zeit Gegenstände, welche unten im Raum aufbewahrt werden, an die Küste schwimmen, so ist dieser Umstand fast immer ein Beweis, daß das Schiff mitten auseinander gebrochen ist, was in diesem Falle sich nur durch einen Zusammenstoß
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_436.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)