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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 31.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Hugo stützte die Stirn in die Hand. Die Versendung der Stadtobligationen am Morgen war ihm während der Rede durch den Kopf gegangen, und doch hätte er Winter’s Sorglosigkeit, mit welcher dieser ihm sein Buch anvertraut, nicht begreifen können, wenn der Mann etwas Straffälliges zu verbergen gehabt. Dann war das belauschte Gespräch wieder vor ihn getreten, das wohl vermocht hätte, zu der Darstellung des Wirths eine Bestätigung zu liefern, wenn nur Winter’s Sicherheit dem Comptroller gegenüber nicht gezeigt hätte, daß er wegen seiner Handlungen nichts zu fürchten habe. Dann aber kamen die Aeußerungen des alten Henderson, welche eine ganz bestimmte Kenntnis; und Theilnahme Winter’s an den „Geschäften“, die Graham unternommen, verriethen und sogar einen Einfluß derselben auf die Verheirathung Jessy’s mit dem Comptroller andeuteten, und eine völlige Wirre von Gedanken drohte sich Hugo’s zu bemächtigen.

„Sie nehmen also den besprochenen Mann als den Hehler für das Gestohlene an,“ begann er nach kurzer Pause, sich mit Macht zu einer klaren Anschauung durcharbeitend; „hier ist aber ein so bestimmtes Factum: die Ausstellung zweier Obligationen unter ein und derselben Nummer, daß eine Einsicht in Winter’s Bücher sofort das Wirkliche in Ihrer Annahme zu Tage bringen müßte.“

„Halloh!“ lachte Marquart auf, „Sie sind wirklich noch so grün in unsern Verhältnissen, daß man Ihnen mit dem kleinsten Mißtrauen Unrecht thäte. Halten Sie den Mann wirklich für dumm genug, irgend einen unrechten Posten in seinem Buche zu dulden? Ich glaube sogar, daß er nicht einen einigen Federstrich, der wider ihn zeugen könnte, bei dem Handel gethan hat. Sie haben ihn zum Exempel in Deutschland getroffen – meinen Sie, der Mann reist dorthin, um seine Tochter und seinen Schwiegersohn spazieren zu führen und ohne Noth sein hiesiges Geschäft in der Hand des alten Henderson zu lassen? Er und der Comptroller werden gerade hinreichend gewesen sein, um ohne einen Buchstaben ihre Obligationen an den Mann zu bringen. Ich glaube auch gar nicht, daß gegen Winter eine bestimmte Anklage wird erhoben werden können, wenn ihn nicht seine eigenen Spießgesellen verrathen, und was ich soeben ausgesprochen, darf eben nur als eine Vermuthung gelten, die freilich alle Gründe für sich hat, mit deren Aeußerung man aber dennoch vorsichtig sein muß. Sie werden aber nun wenigstens begreifen, wie ein Deutscher angesehen wird, welcher in der jetzigen Zeit bei John Winter arbeitet, der seit Langem nur Vertrauensleute in seinem Geschäfte duldet!“ Er erhob sich, scharf seine Mütze rückend, als denke er genug gesagt zu haben, und Hugo, seine drängenden Gedanken und halb geborenen Entschlüsse zurückweisend, bis er mit sich allein sein würde, machte sich fertig, das Haus zu verlassen.

Es begann dunkel zu werden, als er den Weg nach seiner Wohnung einschlug; halb mechanisch nur bog er in der Nähe derselben in das ihm zugewiesene Speisehaus ein, um ein kurzes Abendbrod zu nehmen, und eilte dann, sein Zimmer zu erreichen.

An der offenen Seitenthür des Geschäftslocals, welche bei geschlossenem Vordereingang nach dem obern Stock führte, stand ein Mulattenmädchen, in lebendigem Gespräche mit dem alten Henderson neben ihr begriffen. Beide schwiegen aber bei Hugo’s Annäherung, und die Farbige schien mit reger Neugierde das ganze Aeußere des jungen Mannes einer Musterung zu unterwerfen. Kaum achtete dieser indessen darauf. Er schritt mit einem kurzen Gruße nach der Treppe und öffnete oben sein Zimmer, froh, seine Lage jetzt ungestört in’s Auge fassen und nach einem bestimmten Entschlusse suchen zu können. Er hatte indessen kaum seinen Hut bei Seite geworfen und einen unruhigen Gang durch den Raum begonnen, als Henderson ihm nach in das bereits dunkele Zimmer trat. „Es ist hier ein Brief an Sie,“ sagte der Alte, „jedenfalls werden Sie aber Licht brauchen, wenn Sie ihn lesen wollen!“ und ohne Hugo’s Erlaubniß abzuwarten, ließ er ein Streichholz aufleuchten, damit die Gasflamme entzündend.

Der Deutsche war stehen geblieben und nahm verwundert ein geschlossenes Couvert, dessen zierliche Aufschrift seinen Namen völlig correct zeigte, aus der Hand des Andern. „Von wem, Mr. Henderson?“ fragte er.

„Kann’s nicht sagen, Sir,“ war die Antwort, während ein leichter Ausdruck von Laune sich um den Mund des Sprechenden legte, „aber das Kammermädchen der Mrs. Graham hat ihn gebracht!“

Ein schnelles Roth schoß in das Gesicht des jungen Mannes, Henderson schien aber kaum darauf zu achten, nickte leicht und sagte: „Wenn Sie heute Abend wieder eine Viertelstunde zu plaudern wünschten – ich bin zu Hause, Sir!“ und verließ damit das Zimmer. Im nächsten Augenblicke aber hatte auch Hugo das Couvert geöffnet, sein Auge flog zuerst nach der Unterschrift – „Jessy Winter“ hieß sie, und eine Secunde lang durchschossen sein Gehirn zehn abenteuerliche Vorstellungen auf einmal. Mit zitterndem Auge begann er zu lesen:


„Theuerer Freund!

Nicht wahr, Sie erlauben mir, daß ich diese Anrede gebrauche, wenn Sie sich auch im Augenblick kaum mit günstigen Ideen von mir herumtragen mögen? Es ist mir, als dürfe ich Ihnen nur

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_481.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)