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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

hat; ich mochte Ihnen aber sagen, daß man nicht so alt geworden ist, wie ich, ohne gewisse Grundsätze zu festen Haltpunkten für sich gemacht zu haben, welche man nicht so beliebig nach einer ihnen entgegenstehenden Ansicht ändert. Und einer dieser meiner Grundsätze heißt, daß, so lange die Kinder noch in der Obhut und in dem Brode des Vaters leben, sie diesem, der sie genauer kennt und sie besser zu berathen weiß, als sie sich selbst, zu gehorsamen haben. Das Kind aber, welches diese natürliche Gegenpflicht für die Opfer und die Verantwortlichkeit des Vaters von sich weist, scheidet sich von ihm und hat nirgends mehr das Recht eines Kindes zu beanspruchen, denn es ist contractbrüchig an dem heiligsten Uebereinkommen geworden, welches die Natur selbst geschaffen. Sie mögen Helenen, die noch am wenigsten befähigt ist, ihr eigenes Heil zu beurtheilen, diesen von mir festgehaltenen Grundsatz mittheilen; ich bin indessen ohnedies überzeugt, daß sie sich ruhig ihrem Besten fügen wird, sobald nur nicht ungehörige Einwirkungen für das Gegentheil stattfinden. Und hiermit, Frau Mutter, lassen Sie uns diesen Gegenstand als abgethan betrachten; Herr Römer soll von mir selbst das Nöthige erfahren.“

Er neigte sich leicht und verließ das Zimmer. Die Großmutter lehnte den Kopf zurück, faltete die Hände und blickte in den trüben Abend hinaus; kaum aber waren die Tritte des Geheimraths verhallt, als sich die Nebenthür öffnete und Marie fast geräuschlos hereintrat, einen Stuhl an dem kleinen Arbeitstische unweit der alten Dame einnehmend. „Soll ich nach Licht klingeln, Großmutter?“ unterbrach sie nach einer Weile das Schweigen.

Die Angeredete fuhr wie aus einem Traume auf. „Wo ist Helene?“ fragte sie.

„Sie macht noch einen Gang durch den Garten,“ war die ruhige Antwort.

„Jetzt?“ fragte die Andere und sah dem Mädchen aufmerksam in’s Auge. Marie antwortete nur durch einen bittenden Blick. „O, drücke ein Auge zu, Großmutter, sie hat ja so offen zu Dir gesprochen,“ sagte sie dann halblaut, „Römer darf nicht in das Haus, und was soll sie denn thun, wenn sie ihn einmal sehen und nicht zu noch unpassenderen Mitteln greifen will?“

Die alte Frau schüttelte mit einem leisen Seufzer den Kopf. „Ich darf dem in dieser Weise nicht nachsehen und muß mit dem Mädchen reden. Es wird sie Niemand zu einer Heirath zwingen, die ihr zuwider ist, aber sie darf auch dem Willen des Vaters nicht so fast unter seinen Augen Hohn sprechen. Ist ihre Neigung echt, so muß sie stark genug sein, um abwarten zu können, bis eine bessere Sonne darüber aufgeht; auf dem jetzigen Wege aber kann ihr kein Heil erwachsen – sie sollte den Vater kennen!“

Marie horchte plötzlich auf. „Das ist Meßner, der mit dem Vater spricht,“ sagte sie; „schicke jetzt nicht nach Helenen, Großmutter, es wäre sonst, als geschähe es seinethalber, ich werde auch liebenswürdig sein und Deinen Freund unterhalten!“

„Wenigstens werde ich sie nicht vor einem Dienstboten bloßstellen, denke aber dafür zu sorgen, daß ein derartiges Rendez-vous das letzte ist!“ erwiderte Jene und erhob sich wie in einem kurz gefaßten Entschlusse. „Ob aber der Director Deiner Unterhaltung Stand halten wird?“ setzte sie mit einem halben Lächeln hinzu.

„Warum nicht, Großmutter?“ fragte das Mädchen, rasch den Kopf hebend, „ich denke, es wird eben nur auf mich ankommen! Wir haben vor Zeiten schon einmal recht gut mit einander gestanden – das war, ehe er so süß wurde und zum Heile seiner Carriere sich an die alten Damen hielt. Wenn ich mir jetzt freilich zuweilen denke, was doch für ein tüchtiger Fond in dem Manne steckt, den er um etwas rascheren Vorwärtskommens willen verbirgt und für eine Schönrednerei opfert, wie er daneben fremden Ansichten sich unterwirft, als habe er keine eigenen, so kann ich gar nicht anders, als ihn dafür recht gründlich hassen und ihn unverblümt meine Herzensmeinung fühlen lassen. Indessen vermag ich mich wohl auch ein Viertelstündchen zu beherrschen, wenn es nöthig ist, und ihn innerlich nur zu beklagen!“

Die alte Frau sah das Mädchen mit einem großen eigenthümlichen Blicke an, als sei plötzlich ein ganz neuer Gedanke in ihr aufgestiegen; dann aber, als Schritte im Corridor hörbar wurden, nickte sie leicht und sagte: „So unterhalte ihn, bis ich zurückkomme!“ und verschwand dann in der Seitenthür, welche zu ihrem Schlafzimmer führte.

Marie hatte kaum das Ohr wieder horchend dein Corridor zugewandt, als sich dort die Thür rasch öffnete und, von einem der Dienstmädchen mit brennender Gesellschaftslampe gefolgt, der Schuldirector eintrat. Er warf einen raschen Blick durch das Zimmer und schien sichtlich unangenehm berührt, als er nur die sich erhebende Marie erblickte. Diese indessen ging ihm leicht entgegen.

„Wir haben soeben von Ihnen gesprochen, Herr Director,“ sagte sie, „und ich habe behauptet, daß Sie eine kurze Zeit auch einmal mit mir vorlieb nehmen würden. Großmutter wird bald wieder hier sein!“

Er sah auf, als überrasche ihn die Freundlichkeit ihres Tones. „Sie wissen, Fräulein Marie, daß mich Ihre Gesellschaft immer nur glücklich gemacht hat!“ erwiderte er gehalten, mit einem leichten Forschen in ihre Augen blickend, als traue er der Harmlosigkeit ihres Ausdrucks nicht ganz.

„Immer?“ fragte sie lächelnd, und ein Zug von halber Schalkhaftigkeit legte sich um ihren Mund, der ihrem Gesichte einen ganz neuen Reiz verlieh. „Wenn Sie Geduld zu einem kurzen Geplauder mit mir haben, so will ich schon völlig befriedigt sein!“ setzte sie hinzu und zog einen Stuhl nach dem von der Lampe erleuchteten Tische; Meßner folgte mit einer leichten Verbeugung ihrem Beispiele, aber zwischen seinen halb zusammengezogenen Augen stand es wie eine unbestimmte Unruhe. – – –

Eine Viertelstunde vorher war ein junger Mann um das Haus gebogen, da wo sich der Seitenflügel desselben an die hohe Gartenmauer anschließt, welche die eine Seite einer engen, todten Nebengasse bildet, und hatte dort eine kleine unverschlossene Pforte aufgedrückt. Die Schneeflocken fielen leise und dicht in der hereinbrechenden Dämmerung und hatten bereits die entblätterten Bäume, die Beete und Kieswege mit einer weißen, dünnen Schicht überdeckt; der Gang von Weinlaub indessen, welcher sich an der Mauer entlang nach dem Hause zog, zeigte noch den vollen Schmuck seiner Blätter, und hierher wandte sich der Eingetretene mit einigen raschen Schritten, als wolle er sich gegen jeden zufälligen Blick aus der Umgebung decken. Als er, hinter der Laubwand fortschreitend, die Nähe des Hauses erreicht, da wo sich die Weinranken emporwanden, um die beiden nächsten Fenster des obersten Stocks zu umschlingen, hob er zwei kleine Steinchen von dem geschützten Boden auf und ließ sie durch die nächste Lücke des Laubes hinauf nach den Scheiben fliegen. Der dadurch hervorgebrachte Laut war kaum hörbar gewesen, dennoch antwortete nach Kurzem ein leises Klopfen gegen eines der Fenster. Der junge Mann stand lauschend, mit den Augen die übrigen Fenster, die dem Corridor des obern Stocks Licht gaben, überfliegend. Bald ward behutsam die vom Hause nach dem Garten führende Thür geöffnet, und nach einem vorsichtigen Blicke heraus huschte eine feine Mädchengestalt aus dem sich zunächst bietenden Wege nach dem Weinlaubgange hinüber. Im gleichen Augenblicke meinte der Lauschende eine dunkele Gestalt an einem der Corridorfenster zu bemerken; die Dämmerung wie der fallende Schnee ließen ihn aber kaum unterscheiden, ob er recht gesehen, und in der nächsten Secunde streckten sich ihm die beiden Hände des Mädchens entgegen. „Sieh, Fritz, ob ich nicht fest an Dir halte, trotz aller Hindernisse und Gefahr!“ sagte sie halblaut und mit fliegendem Athem.

Der junge Römer hatte in voller Inbrunst Helene’s Hände gefaßt. „Ach, ich weiß es, Du bist mein starkes Mädchen geworden,“ versetzte er mit einer Stimme, die wie unter Bewunderung und Rührung zitterte, „und ich -– ich kann so wenig thun! Ist es denn wahr, was ich schon in der Stadt gehört,“ fuhr er erregt fort, „daß Deine Verlobung mit Meßner erfolgen soll, sobald seine Ernennung zum Regierungsrath da ist? Sieh, Helene, jetzt vermöchte ich es doch nicht mehr zu ertragen!“

„Ich weiß nichts davon, und die Stadt ist immer besser unterrichtet als wir selbst,“ erwiderte sie, ihre Finger fest um die seinen schließend; „vielleicht glaubt der Vater mich zwingen zu können, wenn Alles seinen Willen nachspricht; aber,“ fuhr sie, den Kopf hebend, fort, während in dem milden Rehauge ein leuchtender Strahl voll Energie aufblitzte, „ich habe Dir gesagt, Fritz, daß ich mich nicht zwingen lasse. Ich hätte vielleicht nicht die Kraft zum Widerstande gefunden, wenn nicht die Sache mit Hugo gekommen wäre, wo ich erkannte, daß der Vater kein anderes Gefühl kennt, als für sich selbst, wenn Du nicht offen an mich herangetreten wärest, daß ich völlig klar über mich selbst wurde – jetzt aber sei ruhig, Fritz, er zwingt mich nicht, und das habe ich auch schon der Großmutter klar und bestimmt gesagt. Was nachher kommen wird, überlassen wir dem lieben Gott; ich weiß, daß Du

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