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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

er plötzlich auf, „und selbst Marquart sagt, sie werden nichts auf ihn bringen können, wenn sich nicht noch ganz besondere Zeugnisse gegen ihn finden; es ist doch am Ende gut, daß Du ruhig in seinem Geschäft geblieben bist, wenn Du auch mit Deinen andern Hoffnungen – na, ich schweige schon, ich wollte aber nur sagen, daß ich ganz genau weiß, wie die Sachen stehen!“

„Und was ist es heute so Besonderes, das Dich am Tage herbringt?“ fragte Hugo, als habe er die letzten Worte überhört.

„Richtig, beinahe die Hauptsache vergessen! Ich habe einen Brief von meinem Alten, Hugo, der mir von New-York nachgeschickt worden ist, Dich aber eigentlich mehr angeht, als mich selber!

Können wir nicht irgendwo eintreten, um die Sache ungestört in Augenschein zu nehmen?“

Hugo hatte rasch den Kopf gehoben. „Der mich angeht?“ fragte er. „Wir gehen nach meinem Zimmer, dort sind wir völlig allein!“ setzte er eifrig hinzu und faßte in sichtlicher Spannung des Andern Arm, ihn in der angedeuteten Richtung fortführend.

Auf der Treppe in dem Geschäftshause kam ihnen Henderson entgegen, blieb indessen beim Erblicken der Aufsteigenden stehen und hob mit einem muthwilligen Blicke gegen Mangold die Faust; dieser aber zog eine wunderliche Grimasse, welche dem Alten als genügende Antwort zu gelten schien, denn mit einem launig drohenden Gesichtsausdrucke schritt er an dem Tischler vorüber.

„Kennst Du den Mann?“ fragte Hugo, von dem unerwarteten Intermezzo überrascht.

„Natürlich! es ist der prächtigste alte Kerl von der Welt,“ lachte der Befragte, „und das einzig Uebele zwischen uns ist, daß er kein Deutsch kennt und ich kein Englisch verstehe; so müssen wir uns also helfen, so gut es gehen will!“

„Aber wo seid ihr zu dieser genauen Bekanntschaft gekommen?“ examinirte der Erstere, sein Zimmer öffnend.

„Wo? nun bei Graham’s; Du weißt ja doch – nein, bei Gott, Du weißt ja noch nichts!“ unterbrach sich der Sprechende, „und das war’s ja zum großen Theil, weshalb ich Dich so gern einmal getroffen hätte. Hast oft Recht gehabt, Hugo, ich bin ein Esel! Indessen ist die Hauptsache jetzt geschwind genug gesagt. Kannst Du Dich noch auf das Thüringer Mädchen besinnen, das wir am ersten Abende in dem amerikanischen Hotel trafen? Gut! acht Tage darauf kam sie als Köchin zu Graham’s, und ich – nun, es mag sich freilich nicht schön ausgenommen haben, daß ein Mitglied der Untersuchungspartei heimlich in das Haus des Comptrollers schleicht; aber was thut die Liebe nicht! Nun, dort war es also, wo ich meist den alten Henderson traf, der mit dem braunen Kammermädchen so vertraut that, daß ich bisweilen dachte, der alte Bursche habe auch noch Heirathsgedanken. Uebrigens waren es sonderbare Dinge, die ich dort erfuhr –“

„Laß uns den Brief nicht vergessen!“ unterbrach ihn Hugo, der seinen Hut abgelegt und nur zerstreut auf die letzten Worte gehört hatte, „nimm Platz und brenne Dir eine Cigarre an!“

„Richtig, den Brief; erinnere mich aber dann noch einmal an das, was ich sagen wollte; es betrifft Deine Prinzessin.“

„Mrs. Graham?“

„Genau so – aber lies zuerst!“

Hugo entfaltete das ihm übergebene Papier, während der Tischler nach den bereit liegenden Cigarren griff und sich mit einem bewundernden Blicke durch das Zimmer in das Polster des Sophas sinken ließ. Das Schreiben lautete:

„Lieber Sohn Heinrich!

Wenn Du gesund bist und es Dir wohl geht in dem neuen Lande, so soll es mir lieb sein; Du hast Deinen freien Willen, also will ich über Dein Fortgehen nur sagen, daß ich mich über Deinen Brief gefreut habe, der mir wenigstens zeigt, daß Du noch an Deinen alten Vater denkst. Ich hätte Dir nun wohl nicht viel mitzutheilen und deshalb auch nicht sogleich geschrieben, wenn der Herr Geheimerath nicht wünschte, daß Du Dich für ihn über eine Sache erkundigen möchtest, an der ihm viel liegt. Es sind nämlich seit einiger Zeit amerikanische Geldpapiere hierher gekommen, die sehr gut sein sollen – ich selber verstehe nichts davon – und der Herr Geheimerath hat für mehrere tausend Thaler davon gekauft. Nun sollst Du zu einem rechtschaffenen Advocaten dort gehen und Dich erkundigen, ob sich bei solchen Papieren auf pünktliche Zinsenzahlung rechnen ließe, oder was man am kürzesten thue, wenn diese einmal ausbleiben sollte. Auf dem beiliegenden Zettel hat der Herr Geheimerath selbst eine genaue Beschreibung der Papiere gemacht.

Nun wirst Du nicht übel nehmen, lieber Heinrich, wenn ich meine, es könnte noch bessere Personen für einen solchen Auftrag geben, als Du bist; ich denke dabei an den Herrn Referendar, von dem aber hier im Hause durchaus nicht gesprochen werden darf; und ich halte es für das Beste, Du übergiebst ihm die ganze Sache. Ich weiß ja doch, daß es die größte Sünde wäre, an seiner Liebe für den alten Herrn zu zweifeln. Was er dann über die Papiere sagt, das schreibst Du mir.“

Hugo las nicht weiter und zog mit einer plötzlichen Ahnung das eingelegte Blatt hervor. Die Schriftzüge seines Vaters blickten ihm entgegen, und die ganze schmerzliche Liebe zu dem starren Manne sammt der Bitterkeit, mit welcher er das Elternhaus verlassen, wurden einen Augenblick wieder in ihm lebendig; in den nächsten Secunden indessen hatte er schon den Inhalt durchflogen und sah mit einer an Schrecken grenzenden Empfindung seine halbe Vermuthung bestätigt – es waren die von Winter in den Handel gebrachten und jedenfalls während seiner europäischen Reise verkauften Stadt-Obligationen, in welchen der Geheimerath sein Geld angelegt. Starren Auges durchblickte der junge Mann das Verzeichnis der Nummern, welches der alte Beamte in seiner gewöhnlichen Genauigkeit hinzugefügt – und die Beweise für die Art, in welcher die Stadt von ihren Finanzbeamten betrogen worden, für dieselbe Art, welche Marquart, der deutsche Wirth, bezeichnet hatte, lagen vor ihm. Er sah einzelne Nummern, von denen er genau wußte, daß er sie selbst erst vor drei Wochen in das Copirbuch eingetragen, während er die damit bezeichneten Obligationen nach Europa expedirt hatte; bei andern war er nicht so völlig sicher; aber schon ein einziger Fall hätte ja zu seiner Ueberzeugung ausgereicht. Sein erster Gedanke war die Gefahr, in welche sein Vater bei der nothwendigen Entwerthung der Papiere durch die jetzige Untersuchung gerathen mußte. Sein zweiter sagte ihm, daß es nach dieser Entdeckung nur der einfachen Feststellung bedürfe, wie weit Winter bei dem Verkauf der früheren Papiere betheiligt gewesen, um diesen mit Graham an ein und denselben Strick zu liefern. Sein dritter rief ihm die Nothwendigkeit in’s Bewußtsein, die Sachlage gegen Winter zu benutzen, um diesen zu zwingen, seinen Vater vor dem drohenden Verluste zu schützen; damit aber mußte auch selbstverständlich sein nächster Schritt in die Office sein letzter auf diesem Boden sein, wenn er sich nicht zu Winter’s wissentlichem Mitschuldigen machen wollte. Er hätte, streng genommen, dem Untersuchungs-Committee seine jetzige Erfahrung mittheilen sollen; aber Angeber mochte er nicht werden und der Angeber von Jessy’s Vater am wenigsten.

Unwillkürlich hatte er, während der Tischler ihn still beobachtete, einen raschen Gang durch die Stube begonnen. Heute Nachmittag wäre es vergebliche Mühe gewesen, Winter aufzusuchen, und so mußte das Nöthige bis morgen früh, bis zu des Principals erstem Besuche in der Office, aufgeschoben bleiben – dann aber konnte es weder ein Hinderniß noch eine fernere Zögerung für Hugo’s Handeln geben, er wußte jetzt ein Wort, das den Mann zum ruhigen Standhalten bringen würde. Den Nachmittag wollte er benutzen, um Carry ein freundliches Abschiedswort zu sagen – erfuhr Winter dadurch vorzeitig seinen Entschluß, so bedurfte es morgen keiner großen Einleitung. Mitten in diese Vorstellungen aber trat der Gedanke an Jessy, und er konnte einem bittern Schmerze, der ihn bei dem Gedanken an sein Scheiden auf Nimmerwiedersehen, an das kalte Ende seiner unglücklichen Leidenschaft überkam, nicht wehren. Fast war es ihm wie ein Trost, daß er, nur auf seine Kraft gestützt und ohne von ihren „Freundschafts“- Anerbietungen Gebrauch zu machen, die Stadt verlassen würde, wenn er auch noch nicht einmal wußte, nach welcher Himmelsgegend er sich wenden sollte.


(Fortsetzung folgt)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_516.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)