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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Stanni“ und der Kuß für ganz Tyrol.

Von Dr. Karl Wagner.

Es giebt Geschichten, die man immer wieder gern erzählen hört, und wenn man sie auch schon hundert Mal gehört hat. Eine solche Geschichte ist das deutsche Schützenfest. Aber nicht nur in der altehrwürdigen Stadt am Mainesstrande allein wird das Wort erklingen, das Alle beredt macht; nein, im ganzen deutschen Reiche und weiter hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, bis über das Weltmeer, wird es jetzt fort und fort wiedertönen wie ein vernehmliches, weithinschallendes Echo. Das Fest ist wie ein Stein, der in’s Wasser geschleudert worden ist: er zieht immer weitere und größere Kreise; das Wasser, das ist „die See, die unergründliche, die tiefe See des deutschen Volksbewußtseins“, wie sie Berthold Auerbach so schön in der Festhalle bei einer Banketrede bezeichnet hat. Das nach langem Schlafe wieder geweckte und wieder erwachte Volksbewußtsein wird sich an der Sonne dieses Festes, das es als seine schönste That begrüßen darf, noch lange erwärmen, und ihre Strahlen werden manchen langen Winterabend gründlich erhellen, wenn im Salon oder in der Spinnstube die Rede auf die Reise nach Frankfurt und die Erlebnisse daselbst kommt. In der Spinnstube! Da wird das echt deutsche Volksfest erst recht seinen Boden finden und kräftige Wurzeln schlagen. Wie werden sie da, wenn’s draußen stürmt und schneit, traulich zusammenhocken und sich von Einem aus ihrer Mitte, der dabei gewesen ist und „der’s wissen muß“, haarklein erzählen lassen, wie Alles beim Feste zugegangen ist und wie der Herzog ausgesehen hat und wie die Festjungfrauen geputzt waren, und wie kein Stand und kein Rang gegolten hat und wie das deutsche Vaterland über Alles gegangen ist! Dann wird der Kalender herbeigeholt werden, in dem dieses Jahr die Festhalle abgebildet ist, und die Beschreibung dazu, und sie wird immer und immer wieder durchstudirt werden und von Hand zu Hand gehen.

Wer aber erst einen Preisbecher oder gar eine kostbare Ehrengabe mit nach Hause gebracht hat, wie wird der beneidet und von den hübschen Dirnen des Dorfes freundlich angeschaut werden! Ueber zwei Jahre wollen’s ihm die Andern gewiß gleich thun. Und nun erst der „Stanni“, der durch einen einzigen Kuß in ganz Tyrol so berühmt geworden, wie Wildauer durch eine einzige Rede – wie wird der erst in seinem Heimathsort angestaunt werden, wie wird er ausgefragt werden und auf jedem Tanzplatz, wo er erscheint, der Held des Tages sein! Ich setze voraus, daß Sie, geehrte Leser und noch mehr geehrte Leserinnen, bereits wissen, wer der „Stanni“ ist; für den Fall jedoch, daß Sie in dem Capitel der historischen Küsse ganz unbewandert sind, sei Ihnen hier eine Lection darin ertheilt.

Der Stanni also ist ein schmucker Tyroler, so recht ein „blitzsauberer Bua“, während viele seiner Landsleute sich mehr durch unnatürliche Eigenschaften auch in ihrem Aeußeren kennzeichneten. Als sauberer Bua war er nach Frankfurt gekommen, als decorirter Mann ist er in seine Berge zurückgekehrt, gerade wie der Herr Professor Wildauer. Aber seine Decoration ist eine viel schönere, als die des Herrn Professors mit der feinen Stahlbrille und dem privilegirten k. k. österreichischen Unterthanenherzen – kein trüber Ordensstern auf kalter Brust, vom Kaiser und Herrn allergnädigst verliehen, sondern der warme Kuß einer deutschen Jungfrau und nicht für den Decorirten allein gespendet, sondern für sein ganzes Land.

Dieser festjungfräuliche Kuß aber war nicht allenfalls eine vorher festgesetzte Nummer des Festprogramms, so daß es in demselben geheißen hätte: „Abschiedstag. Feierliches Geleite für die abgehenden Schützen. Kuß einer Ehrenjungfrau für das ganze Land Tyrol –“, worüber sich die übrigen nicht mit Küssen vorgesehenen Länder mit Recht hätten beschweren können, sondern das hat sich ganz improvisirt und zufällig also zugetragen. Es war am letzten Festtage, Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr. Soeben hatte ein feierlicher Act das herrliche Fest glänzend beschlossen, wie es vor zehn Tagen ein feierlicher Act glänzend eröffnet hatte. Beim freundlichsten Sonnenschein hatte unter dem Zudrang vieler Tausende am Gabentempel die Preisvertheilung stattgefunden. So oft der Name eines Preisgekrönten ausgerufen wurde, schmetterte die Musik lustig darein, die Fahnen salutirten und die Kanonen donnerten in den Jubel der zujauchzenden Menge. Mild, friedlich und würdig edel, wie sie der Bildner (Hr. v. Nordheim) dem großen Friedensfeste aller Deutschen angemessen aufgefaßt hatte, thronte die Germania hoch über den Häuptern des zu ihren Füßen um sie wallenden Volkes und hielt in der ausgestreckten Rechten den Würdigen den Kranz dar. Mitten unter ihren Söhnen aber standen auch die Töchter ihres Landes, die rosengekrönten, schärpentragenden Festjungfrauen, aus deren Händen die kostbaren Ehrengaben, nachdem sie dieselben dem Volke gezeigt, in die Hände der Sieger übergingen. So mag’s den Siegern in Olympia zu Muthe gewesen sein, als ihnen ihre sonst, wie die deutsche, vielgespaltene, beim festlichen Wettspiele aber geeinigte Nation zujauchzte. Damals war es freilich nur ein einfacher Kranz, in dessen Besitz die Stadt, die ihn davongetragen, ihren größten Stolz setzte. So sollte es auch bei uns sein, denn nicht immer ist es edler Ehrgeiz und Lust am männlichen Spiele, die des Schützen Arm führt, das leidige „Brodschützenthum“ – doch wir haben unsern Helden ganz aus den Augen verloren und ehe wir zu ihm zurückkehren, müssen wir noch um ein wenig Geduld bitten. Denn es fällt uns bei der Preisvertheilung noch eine Episode ein, die wir nicht verschweigen wollen.

Die Ehrenjungfrauen, nur zwölf an der Zahl, hatten sich um das Fest ein großes Verdienst erworben. Sie hatten uns durch ihre duftige Gruppe im Festzüge daran erinnert, daß nicht Mannesmuth und Manneskraft allein genügen, sondern daß sich ihnen auch Frauenmilde und Frauenschöne einen muß. Es mußte ihnen daher mit Fug und Recht auch eine Huldigung dargebracht werden. Ein Schleswig-Holsteiner hatte mit ritterlichem Takt ein passendes Geschenk für sie herausgefunden, einen kunstvoll von Zucker gearbeiteten Blumenkorb mit der Inschrift:

Frankfurts Jungfraun diese Gabe
Von der Nordsee, von dem Belt;
Wenn ich solche Mädchen habe,
Stürm’ ich trotzig eine Welt.

Dieses süße Geschenk ward den Festjungfrauen unter der lebhaften Acclamation der Menge nach der Preisvertheilung am Gabentempel überreicht, und der Schleswig-Holsteiner hielt eine kurze Ansprache dabei, die von einer der Damen erwidert ward. Dieser poetischen Scene folgte wieder lauter Schlachtenlärm auf dem Fuße. 120 Kanonenschüsse kündeten den Schluß des ersten deutschen Bundesschießens. Kaum waren sie verklungen, als wieder ein anderes Schauspiel die Blicke Aller auf sich zog. So drängte bis zuletzt auf dem Festplatze ein Bild in stetem Wechsel das andere, Auge und Ohr stets tausendfältig fesselnd. Fahnen schoben sich zusammen, bewaffnete Männer schaarten sich um sie, Musik trat an ihre Spitze. Was bedeutet das? Heute ist doch kein Becher mehr herausgeschossen worden, den sie jetzt in festlichem Umzug heimzutragen sich anschicken. Und doch blitzen mehr als hundert Becher aus der bunten Gruppe hervor. Das sind die Baiern, die Tyroler und die übrigen Oesterreicher, die sich zur Abreise rüsten. Zusammen, als ein geschlossenes Ganzes, waren sie gekommen, so wollten sie auch scheiden. Sie hatten hübsch bis zuletzt ausgehalten, die meisten anderen Schützen waren schon in den Tagen zuvor vereinzelt von dannen gezogen.

„Die Tyroler gehen ab!“ rief es da auf einmal. – „Wer begleitet sie mit?“ Und im Nu Latte sich ein Häuflein gefunden, welches dem Rufe gefolgt, und – siehe da! – es ward immer größer und größer, bis es zuletzt ein ganz stattlicher Festzug war, darunter Comitémitglieder, Frankfurter Schützen, Turner und Turnerknaben und – vor Allem – die Festjungfrauen. Nur langsam setzte sich der Zug in Gang; es schien fast, als ob auf jeden Schritt vorwärts zwei rückwärts gekommen wären, und als ob die Scheidenden alle Janusköpfe trügen, denn alle Gesichter waren nach rückwärts gekehrt, während sie vorwärts schritten. Das Halsverdrehen that auf die Dauer nicht gut, drum machten die Scheidenden draußen auf der Chaussee vor dem Festplatze gleich wieder Halt und wandten das Gesicht noch einmal der so sonnig und wonnig herüberstrahlenden Festhalle zu. Und die Innsbrucker Sänger stimmten ein „Gsangrl“ an: „Ade, du mein Frankfurt, du bist ja mei Freud!“ Und aus gepreßtem Herzen fielen die bärtigen, wettergebräunten Gesellen ein in den Jodler am Schluß, so leidenschaftlich, so gellend, als wollten sie ihren Trennungsschmerz in einem Schrei hinaus jubeln. Singend, springend und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_556.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)