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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Familie besitzt große Güter, und um diese zusammenzuhalten, finden nur Verheirathungen unter den nächsten Verwandten statt. Es prägen sich hier fast bei allen Familiengliedern bestimmte Krankheiten aus. So z. B. haben Alle ohne Ausnahme schwache Augen, zwei Brüder sind ganz blind, zwei befinden sich zur Zeit im Irrenhause, und der Eine ist hier in der Anstalt. Es ist vorgekommen, daß in dieser Familie bei zwei Generationen die Krankheitssymptome gänzlich fehlten, bei der dritten traten sie desto stärker auf.“

Wir standen auf und stiegen den Hügel hinab. Aus dem Hause schob eine ältliche Frau einen offenen Korbwagen in den Garten, mitten in den warmen Sonnenschein hinein. In dem Wagen saß ein erwachsener junger Mensch, in eine warme, wollene Decke gehüllt, auf dem Kopfe eine blaue Mütze mit glänzend schwarzem Schirm und einem breiten, rothen Streif. Auf dem übrigens regelmäßig gebildeten Gesicht lag ein stupider, halb thierischer Ausdruck; wie der warme Sonnenschein ihn berührte, blökte er einige Male, wie ein Schaf blökt.

Wir traten an den Wagen hinan. Er grinste uns mit einem thierischen Lachen an. Er schien uns doch zu bemerken. Die Wartefrau stand neben ihm. Sie wollte ihm die blaue, rothberänderte Mütze zurechtsetzen. Auf einmal erhob er ein lautes Geschrei und verzerrte das Gesicht, als wenn er heftig in Zorn geriethe. Der ganze Anblick war höchst widerlich.

„Aber er scheint doch Empfindung zu haben, Director,“ rief ich, „interessirt ihn die Mütze?“

„Ja, die Mütze gefällt ihm, auch zeigt er Spuren von Zuneigung für seine Wartefrau. Aber damit ist sein Geistesvermögen auch zu Ende.“

Ich machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn ich die Wartefrau schlagen wollte. Und wieder verzerrte sich das Gesicht des Unglücklichen in heftigster Weise, und wieder stieß er das thierische Geheul aus, nur noch in stärkerer und heftigerer Weise.

„Aber warum bewegt er denn die Hände nicht bei seinen Zornausbrüchen?“

„Arme, Füße und Hände sind äußerst schwach. Die Fälle, wo mit der Idiotie große Schwäche in den Händen, Armen und Füßen verbunden ist, sind sehr zahlreich. Er muß gefüttert werden, wie ein Kind, kann nicht gehen und nicht stehen; um ihn in eine andere Lage zu bringen oder um ihn aufzurichten, muß er in die Höhe gehoben werden. Er hört sehr schwer, sieht aber ziemlich gut, wie Sie bemerken; was ihm zu essen und zu trinken gegeben wird, scheint ihm ganz gleichgültig zu sein.“

Da stieß der Kranke von Neuem das thierische Geheul aus. Es klang jetzt wie das Blöken einer Kuh. Der Anblick war äußerst widerlich. „Director,“ sagte ich, „lag nicht eine Humanität in dem spartanischen Gesetze, verkrüppelte und lebensunfähige Kinder in den Eurotas zu stürzen?“

„Kommen Sie, gehen wir in das Haus und hören Sie sich den Unterricht an, vielleicht werden Sie dann anderer Meinung. Sie sollen Idioten sehen, welche Violine spielen, welche lesen und schreiben, welche recht hübsche Korbmacher- und Tischlerarbeiten anfertigen. Vielleicht finden Sie das spartanische Gesetz dann doch nicht so human!“

Wir traten in ein Zimmer zu ebener Erde. Eine große Landkarte von Europa hing an der Wand, gegenüber stand eine schwarze Holztafel auf einem Gestell, auf dem sie hinauf und hinab geschoben werden konnte. Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers. Um den Tisch saßen und standen ein halbes Dutzend Kinder, im Alter von ungefähr sechs bis zwölf Jahren, alle höchst ordentlich und sauber gekleidet. Im Zimmer war das hübsche, junge Mädchen, welches ich am Fenster gesehen hatte. Sie beaufsichtigte die Kinder so lange, wie der Director abwesend war. Er hatte gerade Sprachunterricht gegeben, in dem ich ihn durch meinen Besuch unterbrochen hatte. Als wir in die Thür traten, standen einige von den Kindern auf, kamen uns entgegen und begrüßten uns mit der allen Idioten eigenen Vertraulichkeit. Ein blonder Knabe in dem Alter von ungefähr neun Jahren war sehr unbändig. Er tobte im Zimmer umher, schrie, ohne daß irgend ein Laut verständlich war, und warf sich dann wieder zur Abwechselung zur Erde. Der Knabe war erst seit einigen Wochen in der Anstalt. Die erste Zeit’ seines Aufenthalts war dazu verwendet worden, ihn über die unterste Stufe des thierischen Daseins, auf der er stand, als er gebracht wurde, hinweg zu bringen. Er war höchst unsauber und aß Alles, was ihm vorkam, ohne Maß und Auswahl, Erde, Blätter, Schmutz und Steine.

„Aus diesem rein thierischen Dasein habe ich ihn nun herausgebracht,“ sagte der Director, „er ißt und trinkt jetzt in menschlicher Weise, und sehen Sie ihn einmal an, wie ordentlich und reinlich der Junge aussieht. Noch leidet er an der Eigenschaft, an der die meisten Idioten leiden; er ist entsetzlich träge. Er hat einen ordentlichen Widerwillen gegen jede Bewegung und Thätigkeit. Da, hebe einmal die Mütze auf.“

Als der Knabe die Mütze auf der Erde liegen sah und den Befehl erhielt, sie aufzuheben, erhob er ein wahrhaft widerwärtiges Geschrei. Der Ausdruck von Widerwillen und Trägheit vermischte sich in diesen thierischen Tönen. Erst nach wiederholtem strengem Befehl hob er mit dem größten Widerwillen und unter fortwährendem Geschrei die Mütze auf. Das Experiment, einen Stuhl auf eine andere Stelle zu setzen, ging in ganz ähnlicher Weise vor sich.

„Nicht war, es geht passabel?“ sagte der Director. „Als er kam, warf er sich nieder, wo er stand. Sie sehen, er thut das noch zeitweis. Er hatte nicht den Muth, sich zu setzen; er lag auf der Erde, bis er fortgetragen wurde. Der Knabe ist jetzt auf dem besten Wege. Warten Sie, ich wollte gerade, als Sie kamen, mit ihm die erste Sprachübung vornehmen. Ich kann das gleich thun. Das Kind soll das „A“ aussprechen lernen.“

Dann setzte er sich auf einen Stuhl an den Tisch, und den Knaben vor sich auf den Tisch selbst. Nun sprach er ihm das „A“ vor, so deutlich, so prägnant wie möglich, und befahl ihm, den Buchstaben nachzusprechen. Bei jedem Aussprechen des Buchstaben machte er die Mundstellung so prägnant, wie es anging. Zehn Versuche schlugen fehl. Endlich sprach der Knabe den Buchstaben nach, und wiederholte ihn dann wohl zehnmal.

Wir gingen nun in ein nach der Vorderseite des Hauses belegenes Zimmer. Es war groß, luftig und hoch. Es wehte darin eine reine und frische Luft. Auf vier Bänken saßen einige zwanzig Kinder, im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, alle höchst reinlich und sauber gekleidet. Auf allen Gesichtern war ihr geistiger Zustand in mehr oder weniger deutlichen Zügen zu lesen. Einer der Lehrer der Anstalt war gerade mit dem Unterricht beschäftigt. Die Kinder waren mit wenigen Ausnahmen dieselben, welche ich vor zwei Jahren hier gesehen hatte. Da saß das dicke, häßliche Mädchen, welches damals unaufhörlich weinte, ihr gegenüber ein hübscher, blonder Knabe von vierzehn Jahren, welcher, wenn man ihn nach seinem Namen fragte, nie den Baronstitel vor demselben zu nennen vergaß. Seine adlige Abkunft war die einzige Erinnerung, welche er aus seinen frühern Verhältnissen mit in das Idiotenhaus gebracht hatte. Das dicke, häßliche Mädchen weinte nicht mehr, es war ganz manierlich geworden, gab mir die Hand und antwortete auf jede Frage, welche der Director an sie richtete, mit Verständniß und in deutlicher Aussprache. Baron Fritz war während der zwei Jahre in der Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten weit fortgeschritten. Er legte mir sein Schreibebuch vor. Er hatte nicht allein eine leserliche, sondern sogar eine hübsche Handschrift erworben. Ich dictirte ihm einen kurzen Satz. Er schrieb ihn ohne Fehler in reinlicher und schöner Form nieder. Dann las er mir einige Sätze vor. Er las in der That richtig und ohne Anstoß. Die meisten von den Kindern hatten Lesen und Schreiben erlernt. Ich ließ mir sämmtliche Schreibebücher vorlegen. Keine Handschrift war so deutlich und so zierlich, wie die des Baron Fritz, aber jede war leserlich und reinlich. Der Director veranstaltete ein kleines Examen. Eines nach dem Andern sprachen die Kinder ein Gebet, ein Gedicht oder eine Reihenfolge zusammenhängender Sätze. Mit mehreren wurde eine kleine Unterhaltung über einen leicht faßlichen Gegenstand geführt. Meistenteils war der Ideengang logisch; sehr selten erfolgte eine verkehrte oder nicht in den Zusammenhang passende Antwort. Noch nicht zwei Jahre waren verflossen, als ich in derselben Stube dem ersten Anschauungsunterricht beiwohnte, wo den Kindern, um ihre Sinne zu cultiviren, Bilder mit bunten Farben, welche Menschen, Thiere und Häuser vorstellten, vorgelegt wurden, wo sie häufig, wenn ihnen das Bild einer Katze vorgelegt wurde, auf die Frage: Was ist das? – „ein Vogel“ oder „der Prediger“ antworteten. Und jetzt, nach zwei Jahren, hatten sie Schreiben und Lesen gelernt, und der größte Theil von ihnen verstand die an sie gerichteten Worte und antwortete in eingehender und verständiger Weise, wenn auch zwischen Frage und Antwort zuweilen eine Minute des Nachdenkens erforderlich war. Und vor drei Jahren! Da standen sie fast alle auf der untersten Stufe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 601. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_601.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)