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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

seiner Geistlichkeit, die Irrthümer der päpstlichen Lehrstücke aufzuklären und durch Darstellung der wahren, läutern Bibellehre eine Reinigung des christlichen Glaubens anzubahnen.

Die allgemeinen Angaben wurden durch die dargereichte Schrift selbst vervollständigt, an der mit jeder Seite, die ich weiter las, mein Interesse wuchs. Laut der Vorrede zu der neuen Auflage, die ich in der Hand hatte, ist das Büchlein in vielen Auflagen reißend schnell vergriffen worden, und die Nachfragen danach mehren sich noch immer. „Ich habe,“ sagt der Verfasser über sich selbst, „für’s Volk geschrieben, und das Volk hat mich begriffen; jene (die Gegner) haben für die Theologen geschrieben, und unsere Theologen sind meist Leute, denen Vernunft unmöglich beizubringen ist; daher ist der beste Weg, sich nicht um sie zu kümmern. Das Wort Gottes und nicht der Menschen, das ist unsere große und sichere Regel des Glaubens und der Religion.“ – Hiernach folgt ein Vorwort, „An die Italiener“ überschrieben. „Euch, meine Brüder des Vaterlandes ,“ – so beginnt es – „widme ich diese kleine Arbeit. Religion und Vaterland sind die zwei Gedanken meines Lebens; in Italien diese zwei Gedanken zu einigen und in Fleisch und Blut zu verwandeln, ist die Aufgabe, wozu jeder gute Bürger die Hand anlegen muß, der weiß, daß der Mensch weit erhaben ist über das Thier, daß er sowohl eine Seele zu retten hat, wie ein Vaterland zu vertheidigen. Die Gottesleugner, die Libertins und die aus der Religion einen Handel machen, sind immer die Geißel des Vaterlandes gewesen. Jesus Christus, der göttliche Wohlthäter der Menschheit, hat sein Evangelium des Friedens in die Welt gebracht, um die Menschen auf Erden im Voraus die Seligkeit kosten zu lassen, welche er seinen Erwählten im Himmel vorbereitet hat. Aber Unberechtigte bemächtigten sich der göttlichen Urkunde, die Christus dem Volke gelassen, und gaben sie für ihr ausschließliches Besitztum aus“ u. s. w.

Ohnerachtet aller rücksichtslosen und schneidenden Schärfe in der Sache selbst trennt de Sanctis doch die Personen davon und ist jeder Aufreizung gegen diese letzteren zuwider. „Italiener!“ ruft er aus, „laßt uns nicht einer Nation der Exzesse und der Vergewaltigungen nachahmen. Die Päpste haben uns zu Slaven gemacht; wir, liebreich, wie es sich für Christen ziemt, wollen ihren usurpierten Thron in Staub verwandeln, aber mit christlicher Milde lassen wir in Frieden ihre Personen; wir werden hinlänglich gerächt sein, wenn wir sie erröten und sich verkriechen sehen.“

Um die Wärme, ja Gluth zu begreifen, welche die ganze Schrift durchweht, muß man die Lebensgeschichte des Mannes kennen, der sie verfaßt hat. Er beschreibt sie selbst noch in dem Anruf an die Italiener; er erzählt, auch er sei ein Glied des Clerus gewesen, gegen welchen er jetzt schreibe, und der das Evangelium verdrehenden Kirche; aber noch habe nicht der erste Milchhaarflaum am Kinn gesproßt, da er, ein Jüngling von lebendiger Einbildungskraft, das geistliche Habit in gutem Glauben genommen habe, dadurch erfolgreicher dem Evangelium, der Humanität, dem Vaterlande dienen zu können. Bald genug sei er jedoch aus dem Irrtume erwacht. Während die asiatische Cholera in Italien wütete, versah er die ganze Zeit 1835–37 den Dienst in den Spitälern von Genua und Rom, „die einzige glückliche Zeit seines vergangenen Lebens“. Lange schon hatte er das Priestertreiben durchschaut, aber dies offen zu bekennen, wie er es später getan, hatte er den Muth noch nicht; er sah sich in die schreckliche Alternative versetzt, entweder in die Hände der Inquisition zu fallen oder das theuere Vaterland zu verlassen; in keinem von beiden Fällen konnte er seinen Landsleuten nützen. Er schlug einen Ausweg ein, blieb im Vaterlande und beschäftigte sich mit populärem Predigen, um das Volk sittlich zu bessern und es zu befähigen, die evangelische Wahrheit zu vernehmen. Die Galeerensträflinge, die Gefangenen, die Soldaten, die untern Volksclassen waren die Gegenstände seines Apostelamtes, die Unglücklichen und Schlichten schienen ihm der fruchtbarste Boden, um die evangelische Saat auszustreuen.

Obgleich er mit Vorsicht zu Werke ging, vermochte er doch nicht den Luchsaugen der Inquisition zu entgehen. Ohnerachtet er selbst, unfreiwillig vom Papst Gregor XVI. als Qualificator bestellt, Mitglied der obersten Inquisitionsbehörde von Rom war, konnte er doch einem Proceß und einer Verurtheilung als Verbreiter unehrerbietiger Gesinnungen gegen den Papst, den er nicht für den Statthalter Christi halte, und als italienischer Tendenzen verdächtig nicht entgehen. Auf eine anonyme Anklage, ohne ihn zur Vertheidigung zuzulassen, sollte er seines Amtes als Parochus entsetzt und aus den römischen Staaten verwiesen werden. Nicht auf Antrag des Vertheidigers des Beklagten, der ein Priester war, sondern weil sich der Fiscal, ein Laie, einer so schimpflichen Procedur widersetzte, wurde ihm Gehör verschafft; er hatte nicht die Feigheit zu leugnen, aber auch nicht den Muth, mit seiner Ueberzeugung bestimmt hervorzutreten, sondern weil er gegen die Anklage seine Hingebung und Unermüdlichkeit in der Amtsführung geltend machte, wurde das Urtheil dahin abgeändert, daß ihm unter Androhung schwerer Strafen untersagt ward, ferner wie bisher zu reden, und daß er auf zehn Tage in einem Jesuiten-Convent eingesperrt bleibe. Als er dann den neuen Papst Pio IX. an der Spitze einer Revolution und das Volk mit fanatischem Enthusiasmus ihm folgen sah, erkannte de Sanctis deutlich, daß das kein Anfang sei, in Italien das reine Evangelium und die heilige Religion der Väter wiederherzustellen, und so verließ er mit Thränen in den Augen das theuere Vaterland, brachte seiner religiösen Ueberzeugung das Opfer, sein Amt, seine Ehren, seine Titel, seine Freunde, Eltern aufzugeben und in ein freiwilliges Exil zu gehen.

Er begab sich nach Malta; hier hat er ein offenes Bekenntniß für das Evangelium abgegeben, die Gründe, warum er aus der päpstlichen Kirche ausscheide, in einem Briefe an seinen frühern Superior und in vier Briefen an den Cardinal-Vicar des Papstes veröffentlicht, in einem Journal die Lehre des Evangeliums, die Irrthümer der römischen Kirche, die Geschichte ihrer Päpste dargestellt und nachgewiesen, daß Italien nicht glücklich werden könne, ohne die alte Religion seiner Väter, das reine Evangelium, wieder einzuführen. Weil ihm aber solche Veröffentlichungen zu ungenügend und für das Bedürfniß seiner Landsleute zu langsam erschienen, griff er nun, ermuthigt durch einen frommen Verein, einzelne besondere Verirrungen der römischen Kirche an, worunter die Beichte die erste Stelle einnimmt, daher er mit dieser die Reihe seiner kleinen Tractate begann.

So läßt sich ohngefähr der Verfasser in seinem Vorworte vernehmen, aber Alles viel kräftiger, feuriger ausgeführt, so daß es unmittelbar jedem Italiener an das Herz greifen muß. Die Abhandlung selbst ergeht sich in elf Capiteln über alle religiösen, gesellschaftlichen und politischen Nachtheile und über das historische Unrecht des von der päpstlichen Kirche dem Christenthum aufgedrungenen Ohrenbeichtwesens. In einem schwungvollen Schlußwort vertheidigt sich der Verfasser endlich gegen den Vorwurf der Apostasie, gegen den Verdacht der Bestechung oder daß er seine Landsleute zu dem Bekenntniß eines Luther, Calvin, der englischen, deutschen, genfer Kirche bekehren wolle; nur zu der reinen Lehre des Evangeliums, wie die heiligen Apostel es gepredigt haben, sollen sie zurückkehren.

Dies ist in Kurzem der Inhalt des merkwürdigen Buches, welches Niemand aus der Hand legen wird ohne das Gefühl, daß hier ein Mann voll heiligen Eifers, erleuchteten Verstandes und von der glühendsten Liebe zu seinem Vaterlande und für das Wohl, besonders geistige Wohl seines Volkes die Feder geführt hat. Mag Alles, was hier gesagt wird, längst auch von Andern gedacht und geschrieben worden sein: in dieser Form, so eingehend in die Quellen und doch so faßlich und anziehend selbst für den schlichten Verstand, so scharf und schlagend in seinen Beweisführungen, so aus der Lebenpraxis heraus gesprochen, ist es ein in seiner Art einziges Meisterstück, das zudem durch die persönlichen Thaten und Geschicke des Verfassers einen besondern Reiz und Nachdruck erhält. Daß ein solches Buch in Italien geschrieben ward, wo bis dahin dem kirchlichen Despotismus viel minder gefährliche Schriften auf dem Index der verbotenen Bücher standen und jede Regung kritischer Forschung in Schrift, Wort, ja fast Gedanken dem schwersten Bann unterlag, daß es nahe den Grenzen des Kirchenstaates im Postwagen mir dargeboten werden konnte und Tausende von Lesern und Käufern fand: das ist selbst ein Ereignis; und würde für sich allein schon Zeugniß geben von dem gewaltigen Umschwung, seitdem Piemont einer gesetzmäßigen Freiheit die Bahn gebrochen hat. – Ich konnte das Buch nicht wieder zurückgeben; trotz der Gefahr, in welche mich sein Besitz in den päpstlichen Staaten bringen konnte, kaufte ich es.

Während ich mich immer mehr in die Lectüre vertiefte, war das Männchen, welches es mir dargeboten hatte, alsbald in eine lebhafte Unterhaltung mit den anderen Reisenden gerathen. Auch sein jüngerer Begleiter gab bedachtsam, wenngleich etwas schwerfällig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_603.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)