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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Mühsam arbeiten wir uns empor an den mittlern Fällen vorüber, deren Anblick wir uns zum Theil mit Centimen erkaufen müssen, denn die schweizerische Industrie hat die freien Alpenkinder hinter breterne Buden gesperrt. Von Matte zu Matte öffnen uns geöffnete Kinderhände die Zaunthore, man ladet uns ein, eine gefangene Gemse zu sehen, man bietet uns werthlose Bergkrystalle zum Kauf an – so kommen wir auf eine obere Stufe, wo es lange Zeit eben hingeht, fast immer dicht neben uns zur Rechten den in seiner Schlucht unsichtbar wühlenden Reichenbach.

Indem wir zwischen den Wipfeln der von den hohen Felsenwänden geschützten Fichten mit den Augen schon nach den Spitzen der Bergriesen suchen, in deren Nähe wir uns wissen, wollen wir uns einen klaren Blick über das Berglabyrinth zu verschaffen suchen, in dessen einer Gasse in der Richtung nach dem Knotenpunkte zu wir wandern. Vergessen wir dabei nicht, daß wir bereits über fünfthalbtausend Fuß hoch und nicht mehr in der staub- und dampfgefüllten Atmosphäre der Tiefebene sind, welche uns selbst geringe Fernen in einen grauen Schleier hüllt und das Nahe fern erscheinen läßt. Hier oben in der klaren durchsichtigen Luft erscheint das Ferne nah, und als wollte die Natur sich selbst verspottend necken, bestiehlt sie sich den nach dem Augenschein urtheilenden Menschen gegenüber um ein gut Theil der Größe ihrer Alpenwerke. Wir befinden uns unter der Botmäßigkeit des Schreckhornes. Dieses bildet den 12,568 Fuß hohen doppelspitzig aufragenden Mittelpunkt, von welchem strahlenförmig nach allen Himmelsgegenden hohe zackige Grate auslaufen. Zwischen diesen, wo sie sich von ihrem gemeinsamen Mittelpunkte abzweigen, lagern unübersehbare Schneewüsten, die Werkstätten, wo in allmählicher Stufenfolge aus dem Schnee das dichte, steinharte Eis der Gletscher bereitet wird, welche dann in den zwischen den Graten Herabreichenden Thalgassen abwärts wandern.

Zu diesem gewaltigen Ganzen, welchem Hugi eine Oberfläche von 36 Quadratstunden giebt, und von welchem zwölf Gletscher ersten Ranges ausstrahlen, gehört der Rosenlauigletscher, welcher zwischen dem Dossen-, Well- und Gstellihorn herabkommt und unterwegs noch den Gauligletscher aufnimmt, ehe er bei 4688 Fuß Seehöhe Halt macht und uns den Blick in sein zauberisches Innere erschließt. Was ist es, was die ungeheuere Eismasse zum Stillstand bringt? Ist es ein sich quer vorlegender Thalriegel oder eine Felsenschwelle unter seinem mächtigen Leibe? Beides würde ihn nicht hindern, seinen dämonischen Gang weiter zu gehen; über diese schreitet er leicht hinweg und an jenem würde er sich hoch emporbäumen und dann wie eine zähe Lava darüber weiterkriechen. Nicht so gewaltige Hindernisse sind es, was den nach Millionen Centnern zu messenden Eisstrom fesselt; es ist eine sanftere Gewalt, der linde Hauch der warmen Luft, was den Gletscher nicht aufhält – denn das wäre nur einem vorliegenden Berge möglich – nein, was ihn kosend in Wasser auflöst, daß er dahinschmilzt und den Alpenwald verschont, der vor seiner Bahn aufgeschossen ist.

Wir stehen nun am Fuße des Rosenlauigletschers, wie ihn unser Bild uns zeigt; es ist aber der Fuß nicht in dem Sinne, wie er dem Gletscher als einem Wanderer zukäme; auch Ende kann man nicht gut sagen, denn Ende ist der feste Punkt des Aufhörens, und hier ist von einem festen Punkte keine Rede. Es ist eben die Stelle, wo der Mächtige der genannten sanften Gewalt erliegt; was von ihm in das Bereich dieser Gewalt eintritt, wird von ihr vernichtet, oder besser aus der starren Eisform in die bewegliche Form des Wassers verwandelt, um als Gletscherbach, Reichenbach genannt, hinunter in das Thal der Aare zu eilen. Und tief sehen wir dazu den durstigen Schlund des Felsenbodens vor unseren Füßen geöffnet, die eiskalten Tropfen zu verschlucken, die hoch oben auf der Zinne der Alpen als trockener Hochschnee niederfielen.

Vor uns liegt einer der vielen Krystallpaläste, deren die Schweiz 608 zahlt. Rein wie kaum eines zweiten Gletschers Eis sehen wir es in tiefe Coulissen gespalten, aus deren Tiefen ein reines Ultramarin hervordämmert, während die vorderen Seitenwände aus Demanten gemauert scheinen. Kein Gletscher zeigt die Herrlichkeit des eisigen Gezimmers reiner, wie überhaupt der ganze Rosenlaui-Gletscher von einer Sauberkeit ist, von der wir an vielen anderen das Gegentheil finden und dadurch aus dem Himmel unserer Erwartung gerissen werden. Das Gestein und die Zerklüftungsweise der Uferfelsen, zwischen denen der Rosenlauigletscher herabsteigt, sind von der Art, daß ihm die Bürde und die Unzier des Moränenschuttes erspart sind. Der Unteraargletscher z. B., welcher rechtwinklig mit dem Rosenlauigletscher demselben Gebirgsstocke des Schreckhorns angehört, trägt auf seinem Rücken unermeßliche Lasten von Felsbrocken abwärts, die er unten abladet und durch sie und feineren Schutt arg verunreinigt wird. Nichts von alledem zeigt der vor uns liegende. In ungetrübtem Farbenkleide, von klarem Weiß bis zum tiefen Meergrün, ruht er in jungfräulicher Reinheit vor uns wie ein großes Haufwerk von Scherben eines zertrümmerten Krystallberges der Märchenwelt. Darüber lagern sich die duftigen Wolken des Morgennebels und dicht vor den Füßen des Eisgemäuers glüht die Alpenrose, ganze Flächen des von Feuchtigkeit gesättigten Waldbodens mit rosigem Schimmer übergießend.

Am Fuße eines Gletschers, und namentlich des der gesündesten Waldvegetation so nahe liegenden Rosenlauigletschers, kann man leicht über dem in imposanter Ruhe vor uns liegenden Ende den Anfang und den Verlauf vergessen, – muß man sich ausdrücklich daran erinnern, daß dieses juwelenblitzende Eis nicht hier an dieser Stelle sich bildete, sondern Tausende von Fuß abwärts eine meilenlange Thalgasse heruntergeflossen ist, und zwar in vielleicht ununterbrochen zu nennender innerer Wandlung; einen Stoffwechsel, dem thierischen ähnlich, in dem leblos genannten Reiche darstellend. Es ist darum vielleicht auf keinem Gebiete der auch dem Auge etwas bietenden Naturgeschichte ein so großer Unterschied zwischen dem wenn auch noch so entzückten, aber doch immer nur oberflächlichen Anschauen des Laien und dem sich vertiefenden Betrachten des Forschers, als auf dem Gebiete der Gletscherthätigkeit. Nichts macht dem flüchtigen Beschauer so sehr den Eindruck der kalten Todesruhe, als der in seiner Felsengasse eingeklemmte Gletscher, und doch ist nichts mehr als er ein Bild des beharrlichen Fortschritts, wenn man die Erscheinungen der Gletscherthätigkeit und deren gewaltige Werke genauer kennt.

Wenn man in der Schweiz und den übrigen, gleiche Alpennatur in ihrem Schooße bergenden Ländern des mittlern Europa sich in das überall ungefähr gleichbleibende Niveau der Gletscherfüße stellt, so steht man auf der Scheidelinie, von wo an aufwärts bis über die Schneegrenze hinaus ein ruheloses – oder höchstens während der stärksten Frostzeit gebändigtes - aber in seinen einzelnen Arbeitsmomenten unwahrnehmbares Drängen und Treiben stattfindet – abwärts aber, bis hinunter in die Tiefebene und auf dieser oft noch meilenweit wegwärts von dem Alpenfuße, für den Kundigen die unzweifelhaften Spuren davon sichtbar sind, daß wir vor undenklich langer Zeit – wenn wir damals uns aufgemacht hätten – den Fuß des Rosenlauigletschers unten in der Ebene hätten suchen müssen. Denn wer einmal die Moränen, die langen zusammengefrorenen Steindämme auf dem Rücken eines Gletschers, gesehen hat, der erkennt dann auch an vielen Punkten der savoyischen und lombardischen Ebene, wo sich diese an den Südfuß der Alpen anschließt, in ganz gleich beschaffenen Steindämmen – denen freilich der Eismörtel längst aus den Fugen schmolz – alte Moränen. Jetzt wenigstens, nachdem durch Charpentier, Venetz, Agassiz, Desor, Forbes und Andere die Natur und das Leben der Gletscher erforscht war, war es leicht, in diesen oft meilenlangen und stundenweit auseinanderliegend nebenander verlaufenden riesigen Schuttwällen die Alpenabkömmlinge zu erkennen und so in ihnen für die von der Erdgeschichte angenommene „Eiszeit“ ebenso sichere Belegstücke nachzuweisen, wie für eine ehemalige vulcanische Zeit im Herzen Europas die Lavaströme der Auvergne und Eifel die Belege sind.

Bevor man einmal mit eigenem Auge und Herzen sich in die Majestät der Alpenwelt versenkt hat, macht man sich gewöhnlich ein falsches Bild von ihr: man denkt sich gewöhnlich die äußersten in den Himmel aufragenden Spitzen von Schnee und Eis bedeckt. Es ist gerade umgekehrt. Der in jenen Höhen fallende Schnee, der als besondere Art vorhin Hochschnee genannt wurde, ist so trocken und feinkörnig, daß er an den steilen Felshängen der höchsten Alpenspitzen nicht haften kann und also von den Winden nur an deren Fußgestell in Schluchten und weiten Kesselthälern zusammengeweht wird, aus denen jene Spitzen als schwarze oder höchstens mit einigem Schneeweiß gefleckte Kegel aufragen. Man hat daher ein richtigeres Bild von der Schneeregion der Alpen, wenn man sich vorstellt, es sei über das tausendzackige Alpengebäude plötzlich eine schwere weiße Decke niedergefallen, in welche jene Spitzen und Zacken hindurchstechend Löcher rissen, so daß sie nun aus diesen hervorschauen, während sich die Decke den Thälern und Schluchten zwischen ihnen anschmiegte, und nur hier und da kleine Fetzen an den Flanken jener zurückließ.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_636.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)