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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

draußen geben müsse, hatte sie zwischen den Jahren 1847 und 1852 ausgedehnte Reisen unternommen, deren Resultate sie in mehreren Werken niederlegte,[1] welche zu dem Besten gehören, was wir Deutschen in diesem Genre besitzen. Gerade in diesen Werken tritt der Vortheil, den Fanny Lewald davon hatte, daß sie vorbereitet an ihre Lebensarbeit ging, auf das Evidenteste hervor. Die Welt kam ihr vertraut entgegen, weil sie schon eine Welt in sich trug, und das platonische Wort, daß alles lernen nur ein Sich-Erinnern sei, fand hier seine volle Anwendung. Sie selbst gesteht einmal, daß sie im ganzen Leben nur einige Eindrucke durch neue Anschauungen erhalten habe, die sie bis in’s Innerste auf unvergleichliche Weise ergriffen hätten. „Dahin gehört der erste Anblick des alten Museums in Berlin, als sich mir in der schönen Rotunde die Idee der architektonischen Schönheit plötzlich erschloß. Danach, als ich in Heidelberg die erste schöne Gegend sah; endlich, als ich viele Jahre später einst ganz einsam stand auf der Wengernalp an der Jungfrau und die Lawinen herabdonnern hörte von der sonnenglänzenden, eisigen Höhe; und dann zuletzt das Gefühl jenes Momentes, in dem ich mich den Thoren des ewigen Roms näherte.“ Aus dieser inneren Ruhe, welche eine Folge der Tiefe ist, erklärt sich die hohe Objectivität, mit welcher Fanny Lewald in ihren Reisewerken den Dingen und Menschen gegenübertritt, das innige Verständniß, welches sie den heterogensten Verhältnissen entgegenbringt, endlich die vollendete Sicherheit, mit welcher ihre Hand, bald in großen, kecken Umrissen, bald in sauberer Detaillirung, das Geschaute, Erlebte, Beobachtete auf die Leinwand zu bannen versteht.

Die Reisewerke müssen uns vorläufig, wo Fanny Lewald die Geschichte ihres Lebens erst bis zu dem Augenblicke geschrieben hat, da sie in’s schöne Land Italia zog, als eine Ergänzung ihrer Autobiographie dienen. Auf die Fortsetzung derselben dürfen wir um so gespannter sein, als – nach einer Aeußerung, die ich aus dem Munde der Dichterin selbst habe – „das Stück ihres Lebens, das bis jetzt dem Publicum vor Augen liegt, unbedeutend ist an Gehalt gegen die Jahre, welche diesseits ihrer Memoiren beginnen.“ Dem Laufe ihres Lebens während dieser Jahre, die sie meistens in Berlin verbrachte, zu folgen, ist hier nicht der Ort, und nur eines Ereignisses muß ich erwähnen, weil es für Fanny Lewald von der intensivesten Bedeutung wurde, ich meine ihre Bekanntschaft und spätere Verbindung mit dem Biographen Lessing’s, dem Verfasser von „Ein Jahr in Italien“, und so vieler anderer ausgezeichneter Werke, dem gelehrten und geistreichen Professor Adolf Stahr. Durch dieses Verhältniß schloß sich, so zu sagen, der Cirkel von Fanny Lewald’s geistigem Horizont in der schönsten Weise ab. Ohne dasselbe wäre sie auf ihre eigene Beobachtung, auf ihre, wie das bei der Bildung der Frauen kaum anders sein kann, mehr oder weniger dilettirenden Studien angewiesen geblieben; jetzt konnte sie beinahe mühelos aus einem unversiegbaren Schatz classischer Gelehrsamkeit und streng methodischen Wissens schöpfen und in geistige Gebiete eindringen, die sich ihr ohne dies schwerlich erschlossen hätten.

Und nun bliebe mir nur noch über Fanny Lewald als Dichterin, als Romanschreiberin zu sprechen übrig, d. h. so ziemlich die Hauptsache. Aber wenn es mir gelungen ist, dem Leser die großen Züge dieser Natur zu zeichnen, kann ich mich in der Hauptsache sehr kurz fassen. Fanny Lewald’s Romane gehören nach Form und Inhalt zu den bedeutendsten. Ihr specielles Gebiet ist das moderne Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Schatten- und Lichtseiten, seiner Größe und seiner Elendigkeit. Wie bei allen Romandichtern der Gegenwart, die nicht hinter dem äußerlichen Schaugepränge sogenannter historischer Culturbilder und vielbändiger Haupt- und Staatsactionen die innere Leere zu verbergen suchen, fallen die Hauptaccente auch bei ihr auf das sociale Moment, d. h. die Verhältnisse und den Kampf der verschiedenen Stände untereinander, sodann auf das psychologische Moment, d. h. die Schilderung der Conflicte, in welche die Individuen als Individuen mit diesen Anlagen, diesem Temperament, diesem Charakter, dieser Bildung untereinander gerathen. Meistens sind bei Fanny Lewald beide Momente gleich sorgfältig behandelt, so daß man, wie auf manchen Lessing’schen Bildern, nicht unterscheiden kann, ob die Landschaft – das sociale Moment – für die Staffage – das psychologische Moment – oder dieses für jenes da ist. So vorzüglich in dem Roman, der, was die Großartigkeit des Planes und die strenge Durchführung betrifft, wohl der bedeutendste sein möchte, in den „Wandlungen“; aber auch in dem „Mädchen von Hela“, im „Seehof“, in „Auf rother Erde“ – und wie gesagt, eigentlich überall.

In dem historischen Roman hat Fanny Lewald sich nur einmal versucht, im „Prinz Louis Ferdinand“, und es ist zu bedauern, daß sie es bei diesem einen Versuche, der so gut ausgefallen ist, hat bewenden lassen. Sie hätte Musterleistungen auf diesem Gebiete schaffen können, wo sie uns wahrlich sehr noth thun. Indessen will ich darüber mit der Dichterin nicht rechten. Eine so durch und durch gesunde Natur, wie die ihre, darf und muß sich auf ihren Instinct verlassen, der sie gebieterisch nach dieser oder jener Richtung weist.

Das Gebiet, welches Fanny Lewald ihrer dichterischen Phantasie unterworfen hat, ist sehr bedeutend. Sie keimt den einzelnen Menschen ebenso genau, wie das Charakteristische der Stände und Gewerke, und ihre Grafen sind so treu nach der Natur gezeichnet, wie ihre Tischlermeister, Schäfer, Fischer und Bauern. Und hier müssen wir zur Erklärung dieser intimen Kenntniß auch der unteren Stände von der schönen Höhe, auf welche wir die Dichterin begleitet haben, noch einmal zurückkehren, von wo wir ausgingen, in ihr väterliches Haus dort hinten im alten Königsberg. Hier hat sie Jahre lang in stiller Muße den Blick an der Erfassung des Individuellen üben können; Tochter in einer zahlreichen Familie, Kind in dem großen Hause ihres Vaters, dessen Geschäft ihn mit sehr vielen und verschiedenartigen Menschen in Berührung brachte, Bewohnerin einer Stadt, die gerade klein genug war, um sie nach allen Richtungen hin in allen ihren Erscheinungen auswendig zu lernen, und doch wiederum groß genug, daß man dabei Vieles und viel lernen konnte – das war die treffliche Schule, die Fanny Lewald durchgemacht hat, der Boden, in dem ihre Physische wie geistige Existenz sicher wurzelt.

Das Gefühl dieser Sicherheit – eine Folge eben ihrer normalen, naturgemäßen Entwickelung – ist charakteristisch für Fanny Lewald. Niemand ist weniger in Gefahr, als sie, den Boden unter den Füßen zu verlieren und zu verhimmeln. „Homo sum, nihil humani mihi alienum puto“ – kann sie mit Fug und Recht auf sich anwenden, und sie drückte das in ihrer liebenswürdig sicherstelligen Weise in meiner Gegenwart einmal mit den halb scherzhaft, halb ernsthaft gemeinten Worten aus: „Ob ich als Schriftstellerin etwas Bedeutendes leiste, weiß ich nicht – das aber weiß ich mit Bestimmtheit, daß ich eine gute Hausfrau bin.“

Friedrich Spielhagen.


Der Proceß Windham in London.

England ist stolz darauf, das Land der Widersprüche zu sein, und es läßt sich nicht leugnen, daß diese Phrase, womit man die unbequeme Kritik vorwitziger Ausländer zum Schweigen zu bringen pflegt, eine gewisse Berechtigung hat. Im Grunde genommen sind diese Widersprüche freilich allenthalben vorhanden; aber die größere Freiheit, in der sich das englische Leben seit Jahrhunderten bewegt, die Öffentlichkeit der Discussion in Presse, Versammlungen und Gerichtshöfen hat ihnen einen klareren Ausdruck gegeben als in den Ländern des Continents, wo sie sich hinter der polizeilichen Bevormundung, dem Unterthanenrespect vor hohen und höchsten Personnagen und der büreaukratischen Geheimnißkrämerei verstecken. Das reichste Land der Welt, das in seinem Kanzleistyle eine stehende Formel für die Jahr aus Jahr ein zu registrirenden Fälle des Hungertods besitzt, die meisten Kirchen und die meisten Gefängnisse, die größte Frömmigkeit und die größten Verbrecher, das großartigste Geschäft und der großartigste Schwindel, die aufopferndste Menschenfreundlichkeit und die raffinirteste Schurkerei, eine übermächtige Aristokratie und die ausgebreitetste demokratische Selbstregierung, die höchsten wissenschaftlichen Erfolge und die traurigste Verwahrlosung der Volkserziehung, die glänzendsten Paläste und die elendsten Hütten, politische Freiheit und gesellschaftliche Sklaverei, – diese Gegensätze

sind schreiend genug; aber sie würden viel weniger augenfällig

  1. Italienisches Bilderbuch 1847. Erinnerungen aus dem Jahre 1848. England und Schottland 1851.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_663.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)