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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Sie gehören hinaus an das Schauerkreuz bei der großen Eich’ …

Du weißt schon, warum und wohin. Ich möcht’ sie gern selber hinaus tragen, aber ich bin so matt und zerschlagen, daß ich mich kaum rühren kann … ich bitt’ Dich, geh’ statt meiner hinaus und häng’ den Kranz auf an dem Kreuz …“

Melcher sah zu Boden; er konnte Annemarie’s Auge nicht ertragen. „Ich thu’s nit gern,“ sagte er dumpf, und schüttelte einen unwillkürlichen Schauder ab. „Ich geh’ nit gern an den Ort …“

„Warum etwan?“ sagte sie kalt. „Du hast mir bewiesen, daß es der Sepp war, der den Adrian erschossen hat … Du brauchst Dich also nicht zu scheuen, denn es steht geschrieben – Blut um Blut!“

„Blut um Blut,“ flüsterte Melcher vor sich hin, und der Athem stockte ihm in der Brust.

Annemarie schien es nicht zu beachten und fuhr fort: „Geh’ hinaus statt meiner, Melcher, ich bitt’ Dich d’rum … Ich hab’ diese Nacht’ her einen besondern Traum gehabt … das Jahr ist um, seitdem der Adrian … gestorben ist … thu’ mir den Gefallen – dann will ich versuchen, ob ich ihn vergessen kann …“

„Das willst’?“ rief Melcher mit flammenden Augen. „Gieb mir die Kränz’ … ich trag’ sie hinauf zum Schauerkreuz, und wenn der Teufel dort auf mich warten thät …“

„Der wird nit auf Dich warten, Melcher,“ erwiderte Annemarie dumpf, „… aber es ist allemal gut, wenn sich der Mensch gefaßt macht!“

– Am Abend blies es schaurig kalt von Westen her über die Halde mit der alten Eiche und dem Schauerkreuz. Die Sonne brannte dort hinter einem blutrothen Gewölke aus, das wie vor einem Jahre einen Schneesturm für die kommende Nacht verkündete. Das Gebüsche, das den Waldsaum umkränzte, tauchte die entlaubten Zweige in die düstere Gluth, und die winterlichen schwarzen Tannen stiegen darüber wie riesige geheimnißvolle Wächter des unheimlichen Platzes empor. Die Eiche hatte die dünne, leicht gefrorene Schneedecke des Bodens mit ihren Blättern bestreut, die wie dunkle Flecken von dem hellen Grunde sich abhoben; in der Dämmerung verschwimmend streckte das dunkle ernste Kreuz die Arme wie dräuend in den Himmel, und der gekreuzigte Heiland sah vom Stamme auf die Blutstätte mit der Miene des Züchters hernieder.

Melcher kam rüstig und keck herangeschritten und trat, ohne viel umzublicken, auf die Fußbank des Betschemels und hängte den Kranz an ein paar Nägel, zwischen denen ein Stück Draht mit einigen Korallen angebracht war, um dem einsamen Beter statt des Rosenkranzes zu dienen. Der Kranz wollte nicht halten, und Melcher mußte sich über den Schemel beugen, daß er beinahe die Stellung eines Betenden annahm.

In dem dürren Gebüsch raschelte es; er hielt inne und sah verstört um sich: „Dumme Furcht!“ murrte er. „Der Wind rauscht in den Haselstauden – die Todten können nicht wieder kommen … und die Lebendigen wissen von nichts! … So … jetzt hält der Kranz! Jetzt wird doch noch Alles mein, wornach ich getrachtet hab’ … Vergönnt mir’s, Ihr Todten – ich will Euch auch alle Jahr’ selber einen solchen Kranz bringen …“

Im Gebüsch blitzte es auf, ein Knall rollte seinen Wiederhall durch den aufrauschenden Wald … Melcher sprang mit einem grellen Schrei hoch empor, fuhr mit beiden Händen an die durchschossene Brust und schlug schwer zu Boden, die Eiskruste mit seinem heißen Blute überströmend.

Im nämlichen Augenblick war Annemarie aus dem Gesträuch getreten und stand neben ihm, den rauchenden Stutzen in der Hand.

„Du, Mirl?“ stöhnte der Verwundete, indem er sich krampfhatt emporhob. „Du selber …?“

„Ja, ich bin’s –“ erwiderte sie, „ich versteck mich nit und lauf nit davon … die Kugel ist von mir, und wenn ich auch nit so sicher treffen kann, wie Du, Du stehst doch nimmer auf! Muß ich Dir auch sagen, warum ich’s gethan hab’? … Du hast den Adrian erschossen, der Blinde hat Dich verrathen … Du hast gelogen und hast den unschuldigen Sepp zu Deinem Sündenbock gemacht … hast ihn erschossen und hast gewußt, daß er unschuldig ist … der Erdboden hätt’ Dich nit mehr getragen, und ich hab’s geschworen, ich will den Mörder Adrian’s gerade so auf demselbigen Platz in seinem Blut liegen sehen, wie er gelegen ist – und wie Du jetzt liegst. Melcher … jetzt kann kommen, was will, jetzt hab’ ich mein Wort gehalten … und habe Blut um Blut vergossen!“

„Und es soll über Dich kommen!“ ächzte der Sterbende, „mein Blut soll Dich quälen und verfolgen in alle Ewigkeit …“

„Ich will’s erwarten …“

„Nein,“ fuhr er, wie bereuen?, fort, indem er sich in den Schmerzen des Todes wand, „mein Blut soll nit über Dich kommen … es soll über mich kommen mit all’ dem, das ich selber vergossen hab’ … Verzeih’ mir nur – sag’ mir nur Du, daß Du mir verzeihen willst …“

„An meiner Verzeihung ist nichts gelegen,“ sagte sie grollend, „die kannst haben … aber da schau’ hinauf an’s Crucifix und denk’, wie Du da zurecht kommst …“

„Das will ich nit … ich hab’ nie einen andern Gedanken, ein andres Verlangen gehabt, als Dich … ich will jetzt auch keinen andern haben … gieb mir nur Du Deine Hand … an dem, was dort auf mich wartet … kann ich doch nichts mehr ändern …“

Abgewandt und schaudernd reichte sie ihm die Hand.

Er ergriff und hielt sie fest … mit der letzten Kraft hatte inzwischen die andere Hand nach dem Besteckmesser an seiner Seite gesucht – er zückte es, war aber zu schwach, den Stoß zu vollführen. Der Tod streckte ihn; von der erstarrenden Leiche eilte Annemarie durch die Nacht dem Hofe zu und beugte sich in der Kammer über den arglos schlummernden Bruder des Geliebten.

Sie wollte ihn nicht wecken, aber er sollte mindestens geistig erfahren, daß der Bruder gerächt war … sie vermochte es nicht; sie fand keine Worte mehr für ihren Grimm. Die schuldlosen Züge des Kindes lagen, wenn auch etwas entstellt, so rein, so mild und friedlich vor ihr … ein ungeheures Weh durchfuhr ihr auf einmal das schwerbeladene Herz, sie knickte an dem Bette in die Kniee zusammen, und was Zorn und Rache den brennenden Augen nicht zu entpressen vermocht hatten, das gewährte die erste Regung des Schuldbewußtseins und der Reue – die so lang entbehrte, so heiß erbetene Linderung der Thränen. –

– Ungeheuer war das Aufsehen, als die That bekannt wurde: war es doch binnen Jahresfrist der dritte Mord, der an diesem Platze geschehen, unter Umständen, die einen furchtbaren geheimnißvollen Zusammenhang nicht blos ahnen ließen, sondern mit erschütternder Gewißheit voraussetzten. Die Gerichte begannen neuerdings ihre angestrengte offene und geheime Thätigkeit, aber, eingeengt in die Schranken eines förmlichen Verfahrens, ohne Erfolg. Annemarie selbst verweigerte jede Auskunft und hauste einsam und finsterer als zuvor auf dem noch mehr gemiedenen Stürzerhofe. Sie mußte immer mehr mit fremden Dienstboten wirthschaften, und es

Der Kerker unter der Fröschthurm-Mauer zu Nürnberg, mit der eisernen Jungfer
dem Richtsthule und dem Bock oder der Fiebel

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_676.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)