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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Nicht wahr, Liv’chen? Mit einem Male wäre der Abstand zu groß.“ – Ich nickte ihm schweigend zu, wie auch sie. Mir war gut zu Muth, ich glaubte mich beruhigen zu dürfen. Die Mutter hatte den Versuch gemacht, mich mit Gespenstern zu quälen, und wenn ich auch nicht daran dachte, seinen Vorschlag vollständig anzunehmen, so meinte ich doch in den noch freien vierzehn Tagen – Trinitatis fiel etwa auf den 10. oder 20. Juni, denn wir hatten Ostern sehr spät gehabt – häufig in Sollnitz weilen zu können. Auf solche Weise, rechnete ich, würde ich mich am leichtesten von Livia’s Umgang entwöhnen können.

Das Alles war noch am ersten Tage, am folgenden wollten sie Nachmittags nach Sollnitz zurückfahren, und ich hatte wenig von ihnen, da sie mit Packen beschäftigt waren und Julius überdies sich ziemlich verdrießlich und störrisch zeigte. Sein Inspektor war früh Morgens dagewesen, um mit ihm zu conferiren, darauf schob ich’s; und ich war noch nicht Landwirth genug, um mich für die Zustände, welche ihn etwa geärgert, besonders zu interessiren und ihn extra darum zu befragen.

Als die Reisestunde da war, trieb er ungebehrdig und heftig zum Aufbruch, zankte mit aller Welt, krittelte über Alles, so daß auch wir Anderen nach und nach verdrießlich wurden und ihn zum Kukuk wünschten. Mich dauerte Livia grenzenlos – gegen sie richtete sich das Meiste seiner Widerwärtigkeit, und wenn ich ihren jubelvollen Wunsch, an schönen Tagen lustig durch’s Land zu fahren, mit der Fahrt verglich, die ihr nun bevorstand, so zuckte mir das Herz und ich verfolgte das geliebe Geschöpf mit traurigen Blicken. „Warum kann sie nicht mit mir!“ klang es dumpf durch mich hin.

Da der Wagen endlich vorgefallen und bepackt war, da wir zum Abschied vor der Thür standen und Livia einstieg, wandte Julius sich an mich. „Ich höre zwar, daß Du andere Pläne hast, die es besser scheinen lassen, wenn Du bald hinüber gehst und drüben weilst,“ sagte er mit einem gar eigenen Lächeln, indem er mir flüchtig die Hand reichte und entzog, „aber meine Einladung gilt, und wenn Du magst, so komm nach Sollnitz.“ – „Was für Pläne?“ fragte ich verwundert ihn anschauend. – „Ach bah, Du weißt schon,“ versetzte er, den Fuß auf den Tritt setzend; „jetzt ist keine Zeit zum Schwatzen. Also – wie Du willst! Fahrt zu!“ – Er warf sich in die Ecke der Kutsche zurück, Livia nickte uns mit mildfreundlichem Blicke zu, und der Wagen rollte vom Hofe.

„Na, was dem in die Krone gefahren sein mag!“ meinte der Vater mit gemächlichem Kopfschütteln.“ – „Möcht’s auch wissen,“ sagte ich ernstlich verletzt durch den Vorgang; „ich begreif’ es wenigstens nicht, wie ein paar dumme Wirthschaftsaffairen einen Menschen so grob machen können. Oder war es etwas Anderes?“ Und als ob mir Jemand mit Gewalt den Kopf drehe, blickte ich bei den Worten rasch auf die Mutter – der Gedanke durchschoß mich: hat sie mit ihm geredet, etwa wie neulich mit mir? Ihre Züge waren kalt und unbewegt, die harten Augen starr dem Wagen nachgerichtet. Ich ging mit dem Vater ins Haus.

Ich ließ ein paar Tage vergehen, bevor ich nach Sollnitz hinüberritt, denn Ihr begreift, daß mir nach solcher Einladung nicht viel Lust geblieben war, häufig von derselben Gebrauch zu machen, und um das zu wiederholen und ein für alle Mal damit abzumachen – wie tief, innig und glühend ich auch für meine Cousine fühlte, ich hatte nicht im Sinn, ihren Frieden zu stören, sondern wollte mit diesem Gefühl, gleichviel wie, in meinem Innern fertig werden. Fliehen, wie es ein Anderer vielleicht gethan, konnte und wollte ich nicht, da ich dazu nicht feig genug war und der Mutter und dem Baron Gerold auch keine Veranlassung geben durfte, ihren Argwohn für gerechtfertigt zu halten und auch Livia selbst unglücklich zu machen. Weiter mag ich auf dies Alles nicht eingehen, es verletzt mich und thut mir weh, heute so gut wie vor vierzig Jahren.

Mein Bruder war nicht daheim, als ich anlangte, und Livia empfing mich allein. Sie war freundlich und innig, wie immer, aber nicht frei, so daß, zumal bei meinem Zustande, unsere Unterhaltung bald stockte und immer einsylbiger wurde. Nach einiger Zeit gingen wir in’s Kinderstübchen, den Knaben in seiner Wiege zu betrachten, und dann nahm sie ihren Strohhut und forderte mich auf, mit in den Garten zu kommen und die neuen Anlagen zu besehen, auf die Julius viel Zeit und Geld verwendet hatte. Draußen schritt sie jedoch durch diese Partien schnell hindurch und wandte sich dem Küchengarten und der Bleiche zu, wo die Dorffrauen bei ihrer Arbeit waren. Sie sah nach dieser, sie redete mit der einen oder anderen und lenkte dann in den breiten Steig zurück, den die damals noch jungen Obstbäume angenehm beschatteten. Da gingen wir in gleichgültigen Gesprächen ein paar Mal auf und ab. – „Julius bleibt lange aus,“ sagte ich endlich, um nur etwas zu sagen. „Versäumt er sein Frühstück oft so?“

Sie ließ ein paar Augenblicke vergehen, ohne mir zu antworten, dann aber schöpfte sie hörbar Luft, als werde ihr ein Entschluß schwer, und plötzlich, ohne sich zu mir zu wenden, ohne die Augen zu erheben, begann sie: „Felix, es nützt nichts, ich muß offen mit Dir reden. Dein Bruder ist in sehr übler Stimmung,“ fuhr sie ganz gegen ihre Gewohnheit rasch sprechend fort, „so daß Alle darunter leiden, während doch Niemand weiß, was ihn in solcher Weise verdrießen mochte. Hauptsächlich aber gegen Dich hat er etwas, Gott weiß was, denn es bleibt bei Andeutungen, Cousin, die ich nicht verstehe oder doch nicht verstehen – genug, die mir unfaßbar sind. Es fing neulich schon, noch in Hohensee, an und ist, zumal seit gestern der Baron Gerold hier war, immer schlimmer geworden, auch – ich will ganz offen sein – auch gegen mich.“ – „Livia!“ unterbrach ich sie heftig. – „Es ist, wie ich sage,“ versetzte sie mit einem fast finsteren Lächeln, „und da es so ist, Felix, so will ich Dich bitten –“ – „Nichts, nichts!“ fiel ich ihr noch einmal in’s Wort und fügte knirschend vor Zorn hinzu: „ich muß und will also mit dem Herrn endlich einmal reden, denn diese Einmischung in fremde Angelegenheiten mag sich gefallen lassen, wer will, ich thu’ es fürder nicht mehr!“

„Sei nicht thöricht,“ sprach sie nach einer kleinen Pause. „Was erreichtest Du damit? Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen; das Gift ist schon beigebracht und wirkt nun fort. – Ich habe unser Zusammensein überdacht,“ redete sie mit sinkender Stimme weiter; „ich habe Dein Wesen zu mir und das meine zu Dir mir so recht klar gemacht, und sei es wie es sei, Trauriges find’ ich wohl, aber ein Unrecht nirgends. Aber was hilft uns das, wie Dein Bruder nun einmal denkt? Und somit bitt’ ich Dich, Felix – wenn Du mich so lieb hast, wie ich es seit jenem Morgen drüben glaube,“ schloß sie, und da sie dabei die Augen zu mir erhob, sah ich’s wohl, daß sie von aufsteigenden Thränen verschleiert waren, ihre Wange war bleich und ihre Stimme bebte, – „wenn Du mich so lieb hast, so kommst Du für’s Erste nicht mehr herüber und lässest Dir und ihm Zeit, auch innerlich die rechte Ruhe wieder zu finden. Nicht wahr, Felix?“ – „Livia,“ sagte ich nach einer Pause, und mein ganzes Innere war eine Trauer, „Du weißt es also, wie es steht; mit Willen aber hast Du es von mir nicht erfahren – oder doch?“ – „Nein,“ entgegnete sie fester, „Du hast mich nicht ein Wort hören, nicht einen Blick sehen lassen, die zu hören oder zu sehen mir hätte empfindlich sein, die irgend Jemand Dir oder mir hätte zum Vorwurf machen können. Daß ich es trotzdem errathen, dafür kannst Du nicht, es konnte nicht anders sein. Einen Vorwurf mache ich Dir auch gewiß nicht. Laß uns jetzt nur wachen, daß das Alles in den Grenzen bleibt, welche demselben für uns gezogen sind. Und daher bitte ich Dich noch einmal, gieb ihm und Dir Zeit, wieder ruhig zu werden.“ – –

Ich sage Euch nichts von dem, was in mir vorging, während ich das junge Wesen so, gerade so, zu mir reden hörte; es war zu schwer und traurig, oder auch zu heilig für beschreibende und erklärende Worte. Es genügt die Anführung, daß ich sie niemals mehr bewundert, niemals sie heißer, inniger und reiner geliebt, als in diesem Augenblick. Eine solche Trennung aber, wie sie sie verlangte, schien mir unmöglich und gefährlich zu sein, gefährlich, weil wir dem Feinde damit Gelegenheit boten, uns noch mehr und mit einem Anschein von Recht zu verdächtigen. Ich sprach das auch gegen sie aus und schloß meine Rede mit den Worten: „Verbanne mich nicht, Livia, wenigstens nicht so ganz. Glaube mir, ich finde und habe mehr Kraft ruhig zu werden, wenn ich Dir von Zeit zu Zeit nahe bin und mich an Deinem Wesen stärke, und wenn Julius uns nur öfters zusammensieht, muß auch er wieder vernünftig und ruhig werden.“ –

Sie ging ein paar Schritte schweigend neben mir weiter, dann schüttelte sie leicht den Kopf und sagte, ohne aufzusehen, und so leise, daß ich’s kaum verstand: „Nein, geh’, Felix! Es ist für uns Alle besser! – Geh, und wenn Du’s vermagst, so denke an das, was ich von Helenen gesagt. Da wäre uns Allen geholfen –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_754.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)