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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

mit der furchtbarsten Fluth von verstimmten Trompeten-Pfeifen. Die Dienstmädchen in den Küchen ziehen ihre Pantoffeln aus, tanzen und werfen Dreier, wohl gar Groschen hinunter. Kinder aus dem Hause und von der Straße lärmen und jauchzen drum herum. Der Gelehrte oder Künstler irgend einer Etage schickt hinunter und heißt ihn weggehen. Der Kerl lacht ihn aus, die Dienstmädchen, die Leute aus dem Keller, froh, den „etwas Besseres sein wollenden“ Miether ärgern zu können, stimmen ein und geben dem Leierkastenmanne noch einen Dreier oder Groschen, der nun vor Wonne noch gar zu seinem Kasten singt. Endlich aber hört auch diese Qual auf, bis sich eine Ziehharmonika, eine Guitarre, eine Flöte, wohl gar eine Clarinette auf demselben Hofe hören läßt. Dazwischen schreien die „Madams“ ihren Dienstboten oben und unten Befehle zu, wozu Andere aus irgend einer Etage für alle 10–15 Familien zugleich „schlechte Witze“ machen.

In solcher Umgebung arbeitet der Künstler, der Gelehrte, der Kaufmann in seinem Hinterzimmer. Unmittelbar neben ihm in der Wohnung schreien Kinder, poltern und putzen und zerbrechen Dienstboten. Madame und Mutter und Gattin kommt dann und wann ganz entrüstet hereingeflogen und appellirt an den Hausherrn um Geld, Schlichtung, Schiedsgericht. Beide – sonst die besten Menschen – sind giftig, aufgebracht, gehetzt – Beide werden ungerecht gegen einander und gehen im besten Falle erkältet auseinander.

Unter solchen Verhältnissen (es sind nur einige Hauptzüge) arbeiten die Berliner, treiben sie Geschäfte. In Berlin ist’s am schlimmsten; aber ganz Deutschland leidet mehr oder weniger an demselben Uebel. Die Wurzel desselben erkennt man in ganzer Entsetzlichkeit moralischer und physischer Zerstörung, wenn man damit das geordnete und gegliederte englische Geschäfts- und Familienleben vergleicht.

„Erst das Geschäft und dann das Vergnügen“ ist in Berlin eine schnatterige Redensart, in London eine praktisch ausgeprägte Thatsache. Bei uns hocken die verschiedensten Familien und Bildungsgrade und Geschäfte in je denselben Häusern auf-, in- und durcheinander, in England hat, nach Salomo, Alles seine Zeit und seinen Ort. Die Grundregel für alles menschliche Gedeihen: „Arbeitstheilung“ ist mit allen Vorbedingungen und Ergebnissen praktisch durchgeführt und unverbrüchlicher geworden, als das strengste Gesetz. London ist der classischste und kolossalste Ausdruck dafür, die individualisirteste, gegliedertste Stadt der Welt.

Um dies anschaulich zu machen, suchen wir uns einen der Tausende von großen Geschäftsmännern der City aus und beobachten ihn einen Werktag lang. Weit draußen im Westen, Süden oder Norden des ungeheuern Häuser-, Straßen-, Gärten- und Eisenstacket-Labyrinthes dehnen und verschränken sich Dutzende von Vorstädten zwischen Bäumen, Gärten und Parks. Die Häuser liegen alle mehr oder weniger zurückgezogen von der Straße, hinter eisengeländerumgebenen Vorgärten und vor Hinter-, oft auch Seitengärten, jedes für je eine Familie eingerichtet und von einer einzigen Familie bewohnt. Dieser Häuser – Villa’s und Cottages – giebt es in solch ungeheuern, städtegroßen Massen und in solcher Auswahl von Größe, Preis und Bequemlichkeit, daß auch jede halbweg anständige Familie mit Einnahmen, wofür man in Berlin kaum drei Treppen hoch in einer Mieths-Kaserne, den Launen des Wirths, der Mitbewohner, dem Gestank und Scandale der Straßen und Höfe preisgegeben, wohnen kann, daß selbst ganz gewöhnliche Arbeiter-Familien, Commis, Schreiber, Eisenbahnbeamte, Lastträger, Fabrikarbeiter, Gehülfen und Gesellen in je ihrem eigenen Häuschen mit ummauerten und eisengeländerumgebenen Vor- und Hintergärtchen „leben“ können. Der Engländer wohnt nicht, er „lebt“ in seinem Hause.

Von diesen vorstädtischen, mit Grün und Lebenslust umwehten Asylen des Familienlebens eilt der Engländer jeden Morgen zwischen 9–11 Uhr mit Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn in die verdichtete und nach Straßen gegliederte Geschäftswelt und kehrt Nachmittags 4 – 6 Uhr zum Mittagsessen in seine Familie, in sein grünes, ruhiges, heiteres Lebens-Asyl zurück, um hier seines Lebens froh zu werden und Mensch, Gatte, Familienvater, Freund zu sein.

Das Zerschneiden des schönen Tages durch ein unruhiges, an Zeit kostspieliges Mittagsessen mit Kaffee, Cigarren und schlechter Verdauung hinterher just während der Höhe des Tages und der höchsten Blüthe des Geschäfts ist in England undenkbar und würde ganz richtig als die größte Barbarei gegen eigene Gesundheit, eigenen Vortheil verhöhnt werden.

Doch vergessen wir unsern ausgewählten Muster-Geschäftsmann nicht. Er wird vom Geflüster der Bäume und den Sängern, die auf deren Zweigen sich wiegen, geweckt. Kein Kindergeschrei um ihn herum. Sie schlafen unter besonderem Schutze in einem besonderen Zimmer, ebenso die größeren Töchter und Söhne.

Im Ankleidezimmer findet er Alles, was er braucht, schneeweiße Leibwäsche, gebürstete Kleider, gewichste Stiefeln. Er klingelt um warmes Wasser und rasirt sich selber. Dann nimmt er eine gründliche Wäsche mit sich vor und kleidet sich an mit keinem falschen Fleckchen um und an sich. Dasselbe haben inzwischen die andern Mitglieder der Familie in ihren besonderen Zimmern gethan, so daß sie nun Alle frisch und schmuck sich im Frühstückszimmer treffen und küssen. Im Zimmer glüht ein offenes, helles Kohlenfeuer, der Tisch ist mit blanken Kannen, Tellern, Tassen, weichgekochten Eiern, gebratenem Speck, geröstetem Weißbrod (zwischen silbernen Raufen), Fleisch, duftigem, aromatischem Käse etc. sehr substantiell ausgeschmückt, denn es wird mit Thee oder Kaffee (je nach Wahl) sehr gründlich „vorgelegt“ für den Tag. Ein Knabe oder ein Mädchen haben die Pflicht, ein Gebet zu lesen oder zu sprechen, dann wird so recht lustig zugegriffen und eingehauen. Dabei kommen wohl Familien (keine Geschäfts-) Briefe und die Times an, die noch rasch durchflogen werden. Dann eilt der Hausherr zur nächsten Omnibus-, Eisenbahn- oder Dampfschiffstation, von wo stets eifrige, serapulös rein gekleidete Gentlemen nach der City abfliegen. Hier angekommen ist er bis 4-6 Uhr nur Geschäftsmann und ein ganz Anderer, als zu Hause. Seine Office, sein Geschäfts-Bureau befindet sich in der Straße, wo nur Geschäfte seiner Art sich angesiedelt haben, und in einem Hause, in welchem nur Geschäftsbureaux sind und keine Familien wohnen. Im Bureau ist Alles durch hohe Holzwände sorgfältig abgetheilt, wie die verschiedenen Fächer der Arbeit. Jeder sitzt innerhalb seines Verschlags und weiß stets genau, was und wie er’s zu thun hat. Der Geschäftsherr selbst hat wenig Sitzfleisch. Er schießt von einem Fache zum andern hin und her und giebt und empfängt Befehle, da jeder Untergebene in seinem Fache Herr ist (was sich constitutionelle Herrscher zu ihrem Vortheil merken sollten); er fliegt aus und ein. Börse, Bank, Geldwechsler, Geschäftsfreunde, Kunden, Docks und Speicher etc., Alles was zur raschen und großartigen Entfaltung und Durchführung von Geschäften nothwendig ist, befindet sich überall in bestimmten Straßen und in verhältnißmäßiger Nähe. Für weitere Ausflüge stehen immer die fliegenden, zweiräderigen Götterfuhrwerke der sogenannten „Safety-Cabs“, Sicherheitsdroschken, bereit, oder Omnibus oder Dampfschiffe unten an der London-Brücke oder den City-Eisenbahnen, die immer alle 5–6 Minuten ankommen und abgehen, bald über, bald unter den Straßen und Häusern. Jeder eilt, fliegt, ist kurz und bestimmt mit Worten, die den Cours baarer Münze haben, und macht so während der kurzen, aber ausschließlichen Geschäftszeit mehr „Pfunde“, als unsere deutschen Geschäftsleute Thaler während ihrer zwei zerschnittenen, langen Tageshälften, die ihnen den Morgen und den Abend rauben und den ganzen Tag verleiden. Wer in England während dieser Geschäftszeit nicotingiftiges Unkraut zulpen und sich zu einem „Seidel“ oder „Töpfchen“ oder Kruge hinsetzen, kannegießern, klatschen, „gemüthlich“ sein wollte, würde entweder keinen Platz finden oder in seinem einsamen Winkel als ein Barbar verachtet oder als ein Geisteskranker bedauert werden.

Man ißt und trinkt auch in London während der Geschäftszeit ein „luncheon“, zweites Frühstück, aber rasch, im Fluge, oft stehend. Ein „Sandwich“, belegtes Butterbrod, und ein Glas Ale sind im Nu vertilgt. So fliegen sie während der Mittagszeit tausendweise ab und zu und stehen an langen Zahl-und Servirtischen entlang, stumm und voller Geschäft, das nur erst zwischen 4–6 Uhr ebenso gründlich und allgemein geschlossen wird, wie es zwischen 9–11 Uhr anfing. Ich bemerke hierbei, daß dies nur von den Großgeschäften gilt, die seit Jahren mit Erfolg betriebene Agitation für frühes Schließen aller Geschäfte aber mit Erfolg aufrecht erhalten wird. Schon jetzt schließen eine Menge Detailgeschäfte im Anschluß an die großen, und alle respectablen Geschäftshäuser erster Classe machen aus dem Sonnabend Nachmittag einen „halben Feiertag“.

Zwischen 4–6 Uhr liefert die City ihre Tausende von Geschäftsleuten mit rasender Dampfgeschwindigkeit wieder in ihren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_762.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)