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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

besucht, der Doctor auch nicht, der Pachter auch nicht. Es besucht überhaupt Niemand die Kirche. Wir leben hier wie die Wilden. Für meine Kinder habe ich einen Hauslehrer, der gerade verreist ist, einen Candidaten der Philologie aus Kiel. Der Pachter hat keine Kinder, der Doctor ist unverheirathet. Hätten sie Kinder, ich würde in viele hundert Bankthaler Strafe verurtheilt, wenn mein Hauslehrer sie unterrichten wollte. Beispiele zu diesem Verfahren sind Ihnen ja zur Genüge bekannt.“

„Eine scandalöse Geschichte ist hier kürzlich wieder in der Nähe passirt,“ sagte der Pachter, „leider wieder nur eine unter so vielen. Hören Sie, und machen Sie sich ein Bild von unseren Zuständen. Der dänische Pastor in ** übernahm eine Roggenlieferung an die dortige Armenanstalt. Er beschaffte die Lieferung ohne weitere Controlle, ließ sich aus der Armencasse bezahlen und giebt eine Quittung ab über 14 Scheffel gelieferten Roggen. Dann geht das Gerücht im Orte um, daß der Pastor unrichtig geliefert habe. Das Gerücht dringt zu den Ohren der Armenvorsteher; sie lassen nachmessen und finden zu ihrem nicht geringen Erstaunen, daß nur 10 Scheffel vorhanden sind. Als der Pastor sieht, daß sein Betrug entdeckt ist, antwortet er ganz dreist, daß ihm dies bekannt sei, er werde die 4 Scheffel nachliefern. Natürlicherweise geschah es nicht. Das Armencollegium, dessen Präses der Pastor ist, hatte den Muth, ihn beim Kirchenvisitatorium zu verklagen. Das Kirchenvisitatorium hat das Armencollegium abgewiesen. Es wundert sich hier Niemand darüber; denn Jeder weiß, daß es kein Recht in Schleswig giebt. Und gegen den bösen Schein wußte sich der Pastor auch zu decken: er hatte, als sein Betrug ruchbar wurde, sich von dem Gastwirthe und dem Kirchenboten eine Bescheinigung ausstellen lassen, worin beide Subjecte erklären, der Pastor hätte ihnen bei der Entgegennahme des Geldes gesagt, er wolle die fehlenden 4 Tonnen nachliefern. Was diese Bescheinigung zu bedeuten hat, kann man ermessen, wenn man weiß, daß der Gastwirth zwei Concessionen, als Krüger und als Höker hat, und der Andere als Kirchenbote ganz in der Hand des Pastors ist. Aber trotz alledem erhielt die Armenanstalt nie die 4 Tonnen Roggen und wird sie auch niemals erhalten, während der Pastor das Geld in der Tasche hat.“

Gustav Rasch.     




Aus Graubündens Hochalpen.[1]

Von H. A. Berlepsch.
Nr. 1. Der Piz Ot im Ober-Engadin.

Wie große Städte ihre Kathedral-Signale, ihre riesigen Münsterthürme haben, welche, das Dächer-Chaos hoch überragend, der Häusermasse den ihr eigenen physiognomischen Ausdruck geben, so erblickt der Wanderer auch in den Alpen einzelne hochaufstrebende Gebirgs-Individuen, die in auffallender, fast möchte man sagen, bevorrechteter oder sich hervordrängender Haltung und Stellung vorzugsweise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und jenen Domthürmen zu vergleichen sind.

Zu diesen Berg-Aristokraten gehört der Piz Ot im Ober-Engadin. Wer aus dem Traubenthale des Veltlins über den Bernina-Paß kommt, oder wer auch nur als Curgast der alljährlich lebhafter besuchten, starken, kohlensaueren Heilquelle zu St. Moritz einen Spaziergang zum gewaltigen Morteratsch-Gletscher macht, dem fällt unwillkürlich jene riesige Felsenpyramide auf, die über den breiten Schultern des Piz Padella, oberhalb Samaden, frei und kühn in’s lichte Blau emporstrebt. Es umstehen ihn Nachbarn, die seine Höhe erreichen, wenn das Auge nivellirende Linien zieht; aber sie stecken so breit philisterhaft, so schwerfällig unbeholfen im großen Profil des Alpenhorizontes, sie zeigen so wenig selbstständig Hervortretendes, daß der Blick des Touristen theilnahmlos über sie hinweg gleitet und mit Wohlgefallen nur an dem genialen Piz Ot haften bleibt.

„Piz“ wird in Graubünden, besonders im Romanischen, fast jede Spitze genannt, die der deutsche Schweizer mit „Horn“, der französisch redende mit „dent“ (Zahn), der Savoyarde mit „aiguille“ (Nadel) bezeichnet. So charakteristisch für viele derselben diese figürlichen Bezeichnungen sind, so sind sie doch zu allgemein gebräuchlich geworden, und es giebt eine ganz namhafte Anzahl Berggipfel, die nichts weniger als einem Horne oder Zahne ähnlich sehen. So ist’s auch in Graubünden. Unser Piz Ot ist aber ein echter, vollberechtigter Piz, für den man, wenn dieser Ehrentitel nicht schon existirte, ihn besonders einführen müßte. Der individuelle Name Ot ist eigentlich ein Adjectivum und entspricht dem französischen haut, so daß der ganze Name, in gutes Deutsch übersetzt, eigentlich „hohe Spitze“ heißen würde.

Er ist ein Wanderziel, wie man deren in der Schweiz, trotz des beinahe unzählbaren Bergereichthums wenige hat. Ein Gipfel, wie der des Piz Ot, von mehr als zehntausend Fuß Höhe – also etwa fünf Siebentel der Erhebung des höchsten europäischen Berges, des Montblanc – gehört in der Regel schon zur Classe jener Alpen-Notabilitäten, zu deren Ersteigung einige Sicherheit in Schritt und Tritt, ziemliche Gewandtheit im Klettern, besonnener Muth bei der Wanderung über Firnfelder und spaltenreiche Gletscher, sowie Ausdauer und Elasticität der Pedalmuskeln erforderlich sind. Berge von acht- bis zehntausend Fuß Höhe ragen nämlich mit ihren Kulmen schon einige tausend Fuß in die Schneeregion hinein und sind deshalb, wenn sie nicht allzu steilwandig anstreben, Jahr aus Jahr ein ganz oder doch theilweise mit Schnee bedeckt. Die Ersteigung derselben ist darum auch gewöhnlich mit der Nothwendigkeit des Uebernachten-Müssens in einer Sennhütte verbunden, und zwar aus folgendem Grunde: In den warmen Sommermonaten (während welcher man doch nur Wanderungen in’s Hochgebirge unternimmt) wird der Schnee durch die Insolation (d. h. durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen) auf seiner Oberfläche so geschmolzen, daß nicht nur das Gehen über den völlig durchfeuchteten Schnee unangenehm wird, weil das geschmolzene Schneewasser die Schuhe gleichsam durchbeizt, – sondern auch beschwerlich, ermüdend, weil der Fuß nicht mehr festen Tritt fassen und in Folge dessen unter Umständen das Wandern gefährlich werden kann. Deshalb übernachten Bergsteiger und Führer in den Hütten der oberen Staffeln (Alpweiden), um vor Tagesanbruch, wenn die Luft noch kühl, der Schnee noch hart und tragfest ist, mit frischen Kräften, rüstigen Schrittes emporeilen und, wenn immer möglich, bei guter Zeit den Gipfel erreichen zu können. Nach ein- oder zweistündigem Aufenthalt mahnen die Führer zur Rückkehr, um noch vor Eintritt der hohen Nachmittagswärme wieder über den Schnee hinabzukommen.

Von welch entsetzlichen Folgen eine Verspätung bei hoher Luft- oder Sonnentemperatur für den entschlossensten, klettergeübtesten Bergsteiger werden kann, zeigte ein Vorfall des letzten Sommers, den ich kurz erzählend hier einschalten will. Mitglieder des englischen Alpine-Club belagerten mehrere Wochen lang von Zermatt (im Wallis) aus den noch nie erstiegenen 13,900 Fuß hohen Mont Cervin (Matterhorn), um den Unbezwinglichen zu besiegen. Unter ihnen war auch ein Mr. Whimper, der in verwegener Tollkühnheit seinen Führern oft vorauseilte, alle Regeln vorsichtigen Steigens außer Acht lassend. So auch, bei einem Versuche auf eigene Faust, kam er eines Tages in bedeutender Höhe bei einer beinahe senkrechten Felsenwand an, die mit dichtem Firneis dick überzogen war. Dahinauf mußte er. Dies ist ein Umstand, der den Bergsteiger nicht abschreckt und oft vorkommt. Mr. Whimper hieb mit dem Beile, das er zur Hand hatte, Tritt um Tritt vor und über sich in’s Eis, einige Hundert Fuß hoch, bis er weiter oben wieder auf’s „Abere“, d. h. auf den schneefreien Felsen kam. Nach

  1. Unter diesem Titel wird der nächste Jahrgang unserer Zeitschrift aus der Feder des bekannten Schweizerführers eine Reihe landschaftlicher Skizzen mit Abbildungen bringen, die wir unsern Lesern im Voraus auf das Angelegentlichste empfehlen. Berlepsch, dessen frische, wahre und geistreiche Schilderungen in den letzten Jahren so großen Anklang fanden, lenkt in diesen Skizzen die Aufmerksamkeit aller Reisenden auf einzelne noch wenig bekannte Punkte des Schweizerlandes hin und erwirbt sich dadurch ein neues Verdienst. Ein von dem geehrten Verfasser als Einleitung zu diesem Artikel beigegebenes interessantes Vorwort müssen wir des fehlenden Raumes wegen für den nächsten Artikel versparen. D. Red.     
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_828.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2021)