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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Kinder,“ sagte der Polirer, „es war heute ’was Merkwürdiges. Nach Feierabend können wir auf der Herberge nun die genauesten Nachrichten von dem geköpften Grafen erzählen.“ Singend und pfeifend gingen sie wieder an die Arbeit. Bald war die Gruft geschlossen, und jedermann schritt über die Quadern. Zwei Mal war Schwarzenberg’s Grabesruhe gestört worden. – – –

Am 20. August 1777 gingen auf dem Platze vor der Nicolaikirche zu Spandau zwei Männer auf und nieder. Der Aeltere trug die Uniform eines Regimentschirurgus, der jüngere, etwa 29 Jahre alte Mann war in Civilkleidung. Er hatte ein sehr heiteres, frisches Antlitz, kräftige Körperformen und zeigte große Beweglichkeit. Der Chirurgus war der Herr Laube, der Civilarzt der Stadtphysikus Heim. – Damals stand er an der Schwelle seiner segensvollen Laufbahn. Wer hat den Namen des alten Geheimrathes Heim nicht nennen hören, vereint mit Dankesworten und in Begleitung irgend eines originellen Charakterzuges? Des alten Heim, der jährlich 4000 arme Kranke unentgeltlich behandelte und sie theilsweis unterstützte?

Heim sah inmitten des Gespräches nach der Thurmuhr der Nicolaikrche. „Gleich acht Uhr,“ sagte er zu Laube. „Nun muß der Oberst doch bald anlangen.“

„Irre ich nicht, so biegt er eben dort um die Ecke,“ entgegnete der Chirurg.

Wirklich kam auf die Kirche zu der Oberst von Kalkstein in Begleitung des Küsters und eines Haufens von Arbeitern, welche verschiedene Werkzeuge trugen. Bei Heim und Laube angekommen begrüßten sich die Herren.

„Nun,“ sagte der Oberst, „schreiten wir zum Werke. Ich bin doch neugierig, ob wir es ausfindig machen werden, daß er hingerichtet wurde.“

„Ich zweifle daran, Herr Oberst,“ sagte Heim.

„Ich kann Ihnen mein Wort darauf geben,“ entgegnete Kalkstein, „daß ich gestern noch den Maurer gesprochen habe, der vor 22 Jahren beim Ausbrechen des Gewölbes thätig gewesen ist und der mir betheuert hat, daß der abgehauene Kopf neben der Leiche gelegen habe.“

„Wollen sehen,“ lächelte der Physikus.

„Wenn’s gefällig wäre,“ unterbrach der Küster, welcher unterdessen die Kirche geöffnet hatte. Die ganze Versammlung trat in das Gotteshaus.

Und zum dritten Male ward der Schlaf des Grafen Schwarzenberg gestört. Wieder dröhnten die Schläge gegen die Wölbung der Gruft und hallten unheimlich in der hohen Kirche; gleich langanhaltendem Aechzen tönte das Knirschen der Eisen zwischen dem Gestein, als die Arbeiter die Quaderstücke aushoben. Auch das Publicum zu diesem seltsamen Schauspiele hatte sich geändert – kein Prinz mit Adjutanten und Pagen wartete der Oeffnung. Einfache Soldaten und Aerzte wollten die Wahrheit erforschen und Gewißheit haben, ob der Henker den hochgräflichen Hals zerhauen; denn die Sage war fast zur Geschichte geworden und hatte ihren Platz in einem der berühmtesten Werke gefunden: daß der Graf Schwarzenberg enthauptet worden sei.[1] – Wieder plumpten die Steine hinunter in die Höhlung – wieder stieg und senkte sich der Staub – da sah man die Leiche, die drei Mal beunruhigte. Im offnen Sarge lag sie, der zertretene Deckel neben demselben noch von 1755 her. Die Arbeiter hatten damals es gar nicht für nöthig gehalten, den schützenden Deckel wieder aufzulegen. Aber die Leiche hatte sich nicht verändert, sie war vollständig da, wie sie vor 22 Jahren sich ihren Störern gezeigt hatte, gleichsam als wollte sie sagen: „Ich bleibe hier zur Nachsuchung, rechtfertigt mich vor den Lebenden.“ – Der Kopf lag neben dem Hute, wie Dequede ihn niedergelegt. Der Degen war von Rost zerfressen, die dicken Sohlen der Schuhe zerplatzt.

Heim war schon in der Gruft und begann seine Untersuchung. Für den Arzt war der mächtige Graf eine Leiche, wie er deren hundert auf dem Secirtische vor sich gehabt hatte.

„Sehen Sie,“ rief Kalkstein herab, „da liegt wahrhaftig der abgeschlagene Kopf.“

„Ruhig Blut!“ entgegnete Heim. „Das beweist Nichts. Der Schädel kann vom letzten Male her dahin gelegt sein. Erst die Halswirbel, Laube. Erst die untersuchen.“

Beide Mediciner wühlten in dem Sarge umher, hoben die Leiche hoch, verrückten die Kissen und fuhren unter die modernden Kleider.

„Wie viel Wirbel haben Sie, Laube?“ fragte Heim.

„Viere, Herr Physikus.“

„Ich habe nur zwei, sieben müssen wir haben. Sollte einer fehlen, so wäre am Ende die Hinrichtung kein Märchen.“

Sie suchten weiter.

„Halt,“ rief Heim, „hier ist Nummer sieben. Ganz und wohl erhalten. Herr von Kalkstein,“ rief er hinauf, „sieben Halswirbel sind da. Schwarzenberg ist ehrlich gestorben.“

Kalkstein stieg jetzt ebenfalls in die Gruft.

„Alles in bester Ordnung,“ sagte Heim. „Da sehen Sie 7 Halswirbel, 12 Rücken- und 5 Lendenwirbel. Leiche ist gut erhalten. War balsamirt. Können noch die Kräuter deutlich erkennen, in der Bauchhöhle ist viel Myrrhen und Aloe, davon die röthliche Farbe der Leiche. Hier im Kopf – da sehen Sie Lavendel und Lorbeer.“ Bei den letzten Worten zog der Arzt sein Taschenbuch heraus und notirte: Corpora vertebratum colli, auch die processus obliqui ascendentes und descendentes nebst den processus spinosi vollkommen und unbeschädigt und fest, welches an einigen keineswegs hätte sein können, indem bei der Enthauptung wenigstens zwei dieser Knochen beschädigt werden müßten. Punktum. Schwarzenberg ist nicht decapitirt, und in Zukunft wird wohl das Märchen nicht mehr auftauchen, wenigstens können wir Herrn Ouvrier ad absurdum führen.“ [2] Heim klappte sein Taschenbuch zusammen.

„Und nun,“ sagte Kalkstein, „mag der alte Herr in Frieden ruhen. Sie werden ihn nun wohl nicht mehr stören.“

Ein sausender Luftzug fuhr durch die Kirche, welche bereits halb dunkel geworden war, denn die Dämmerung senkte sich hernieder, die Fenster klirrten, und Wetterleuchten erhellte die Schiffe des Gotteshauses; es war ein heißer Augusttag gewesen. Bewegt blickten die Männer in der Gruft einander an. Der alte Regimentschirurg hatte die Hände gefaltet und betete. Er war das von früher her im siebenjährigen Kriege so gewöhnt. Kalkstein aber sah dem jungen Stadtphysikus zu, der den Kopf des Grafen an die richtige Stelle legte und den Sarg wieder in Ordnung brachte.

Sie stiegen endlich alle Drei heraus. Die Kirche war ganz finster geworden. Die Arbeiter hatten Laternen angezündet, deren Schein an den hohen Pfeilern auf und nieder hüpfte.

„Schließt mir das Grab gut und setzt den Deckel wieder über die Leiche. Es soll Euer Schaden nicht sein. Gute Nacht!“ Mit diesen Worten verließ Kalkstein mit den beiden Aerzten die Kirche. Draußen athmeten sie hoch auf. „Wie nichtig – wie erbärmlich ist der Mensch!“ moralisirte der alte Oberst.

„Wie wenig bleibet ihm von aller Hoheit, so er im Grabe ruhet!“ setzte der ergraute Regimentschirurgus hinzu.

„Ja,“ lächelte Heim, „er kann noch froh sein, wenn er im Grabe Alles behält, was er mit hineingenommen hat.“

„Wie meinen Sie das, Herr Kreisphysikus?“

„Ei,“ lachte der junge Arzt, „sehen Sie, weil ich mir von dem alten Herrn da unten ein Andenken mitgenommen habe.“ Bei diesen Worten zog Heim eine Hand voll Knochen aus der Rocktasche. „Es sind die sieben Halswirbel Sr. Erlaucht des Herrn Grafen von Schwarzenberg, die von nun an in meiner Sammlung anatomischer Gegenstände prangen werden.“

„Herr,“ rief der alte Chirurgus zurückweichend. „Wissen Sie nicht, daß der Minister umgehen, spuken soll? Wenn er – –“

„Pah! lieber Regimentschirurgus! Sie, ein Arzt, glauben an Geister? Er soll nur kommen, der Alte, wird mich freuen, seine Bekanntschaft zu machen. Gute Nacht, meine Herren; wahrscheinlich werde ich in einer Stunde herausgeklingelt; ich habe drüben auf dem Kietz eine Entbindung zu erwarten. Gute Nacht.“ Der Physikus grüßte, schob die Halswirbel in seine Tasche und trat dann schnellen Schrittes den Rückweg an.[3]

Schwarzenbergs Grabesruhe ist nicht wieder gestört worden.



  1. Der Feldprediger Ouvrier hatte die Nachricht von der Enthauptung in Büsching’s Wöchentlichen Nachrichten veröffentlicht. Namentlich in Folge dieses Aufsatzes ward die Gruft noch ein Mal geöffnet.
  2. Heim’s Gutachten trug besonders zur Beseitigung des Gerüchtes von der Enthauptung bei. Daß die Leiche des Ministers in Spandau blieb, veranlasste der Sohn. Graf Schwarzenberg der Jüngere wollte anfangs die sterblichen Reste nach Wien führen. Indessen unterblieb die Wegführung, weil die Straßen durch die Schweden, die den Grafen glühend haßten, zu unsicher waren.
  3. Die sieben Halswirbel fanden sich noch nach Heim’s Tode in seiner Sammlung vor.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_540.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)