Seite:Die Gartenlaube (1864) 102.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Wahrheit! Du mußt Deine Märtyrer haben;
Ohne sie winket dir nimmer der Sieg!
Als man den Dulder schon lange begraben,
Lange sein Mund, der begeisterte, schwieg,

45
     Und nun kein Mensch mehr spricht:

     „Nein, sie bewegt sich nicht!“ –
Kündet ein Denkmal am heiligen Orte:
Wahrheit, du siegst! – Und es huldigt dem Worte
     Selber die Kirche noch:

50
     „Ja, sie bewegt sich doch!


Fesselt die Erde in zwängende Schranken!
Greifet der Zeit in das rollende Rad!
Bindet die Flügel der kühnen Gedanken!
Haltet die Menschheit auf strebendem Pfad! –

55
     Thörichter Blödsinn spricht:

     „Erde, beweg’ dich nicht!“ –
Nimmermehr zwingt ihr sie, stille zu stehen!
Vorwärts und vorwärts wird ewig sie gehen!
     Hindert und hemmet noch –

60
     Und sie bewegt sich doch!

 G. H-r.


Wir Deutsche haben während der letzten Jahre die hundertsten Geburtstage mehrerer unsterblichen Männer in einer Weise gefeiert, die als eine verklärte Wiedergeburt derselben im Geist und Streben der ganzen Nation gelten kann.

Die meisten dieser Geburtstage galten Dichtern und Denkern. Die befreiende Naturwissenschaft, die erst in unseren Tagen zum Gemeingute des Volkes zu werden beginnt, ward früher geboren. Wir feiern im Februar den dreihundertsten Geburtstag des Vaters der Physik und Märtyrers der Lehre von der Bewegung der Erden und Himmel um uns, Galileo Galilei’s. Er ist es gewesen, der mitten im Lande des festen Glaubens an eine unbewegliche Erde und an unerschütterliche Glaubenssätze die Entdeckungen eines Copernikus (der am 19. Februar 91 Jahre früher geboren worden war) von den Bewegungen und Umdrehungen der Himmelskörper den Priestern und Mönchen und selbst dem Papste 78 Jahre lang bewies, ihnen das Fernrohr dazu in die Hand gab und nach erzwungener Abschwörung dieses Wissens im Munde aller Nachwelt auf ewige Zeiten durch den Ausspruch unsterblich ward: „Und sie bewegt sich doch!“

Copernikus hatte die im Glauben der Menschheit beinahe zwei Jahrtausende stillstehende Erde wissenschaftlich in ewige Bewegung gebracht. Seine in Rom verbotene, von Galilei bekräftigte, genauer, unumstößlich bewiesene und „abgeschworne“ Lehre ward dadurch sofort Gemeingut aller gebildeten Nationen. Mit Galilei eine Zeit lang gleichzeitig lebte, lehrte und hungerte der größte aller deutschen Astronomen, Johann Kepler. Und im Todesjahre Galilei’s ward der wissenschaftliche Entdecker der astronomischen Schwere, der vierte Reformator der Himmelskunde und Naturlehre geboren, Isaak Newton.

Wir sehen, wie sich die Geister des Fortschritts im Wissen und Erkennen, in der Cultur und Freiheit, über Nationen und Jahrhunderte hinweg siegreich über den Häuptern der Mächtigen die Hände reichen und uns mit der tröstlichen Ueberzeugung erfüllen, daß der stets im Wissen und in der Freiheit fortschreitenden Menschheit kein Stillstand, noch weniger Umkehr geboten werden kann.

Ganz besonders tragisch und oft beinahe romanhaft dichterisch tritt diese Wahrheit im Leben Galilei’s hervor. Er ist eigentlich die Persönlichkeit des großen Wendepunktes in der Weltgeschichte, die bis zu Galilei’s Lehren und Leiden auf einer ruhenden, stillstehenden Erde gespielt hatte und sich nun auf einer durch die Himmel sausenden, um sich selbst drehenden Planetenkugel fortsetzen mußte, die Persönlichkeit des Kampfes der Vernunft gegen weltliches und geistiges Papstthum, der Triumph lebendigen Wissens gegen todten Glauben, gerade in dem Augenblicke, als letzterer es Schwarz auf Weiß und beschworen nach Hause trug, daß die Wissenschaft „umgekehrt“ sei und Buße gethan habe.

In dieser weltgeschichtlichen Persönlichkeit Galilei’s lernen wir nun auch eine feine, weltmännische, anmuthige Individualität kennen, verehrungsvoll umlauscht von weltlichen und geistlichen Großen, von künftigen Königen, wie Gustav Adolph, von berühmten Herrschern, wie dem Mediceischen Cosmo. Er singt und spielt und liest Dichter in Gärten, wo Citronen blühen, über welchen der italienische Himmel lächelt. In seinem gastfreundlichen Hause findet Jeder ein offenes Herz und einen gedeckten Tisch. Achtung, Ehre und Liebe umgeben ihn bis in’s späteste, blinde Alter, selbst vor dem Tribunale der furchtbaren Inquisition. Seine Feinde umlauern und umhorchen ihn Jahre lang mit Zaudern und Zagen und wagen endlich nicht einmal den Verurtheilten brutal zu behandeln. Obgleich man viel von Tortur und finstern Kerkern in Lebensbeschreibungen Galilei’s gefabelt hat: dies Zeugniß müssen wir seinen pfäffischen und festgläubigen Feinden geben, daß sie ihn, der die Grundlage ihrer Herrschaft gründlicher erschütterte, als Luther, nie in moderner Polizei- und soldatstaatlicher Weise brutal behandelten, und selbst bei dem Verbot seiner Lehren und seiner Bücher eine Rücksicht bewiesen, wovon bei den Verboten, Verwarnungen und Confiscationen jetziger Staaten keine Spur mehr zu finden ist.

Galilei war freilich nicht blos ein geborner, sondern auch ein wirklicher Edelmann des damals in Cultur blühenden Florentiner Staates. Er ward am 18. Februar 1564 zu Pisa geboren. Sein Vater scheint neben Wissenschaft auch Tuchhandel getrieben zu haben. Der Sohn aber hatte blos Sinn für Wissenschaft. Gehörig vorgebildet, studirte er von 1581 an auf der Universität seines Geburtsortes Medicin und Philosophie des Aristoteles, die als die vollkommenste, unveränderliche Quelle alles Wissens galt. Er aber hatte mit seinen feurigen Augen und seinem lichten Sinn bald ganz andere Quellen entdeckt.

Wie Newton durch einen vom Baume fallenden Apfel auf Entdeckung des Gesetzes der Schwere geführt ward, so kam auch der erst 19jährige Student Galilei im Dome zu Pisa durch eine alltägliche Kleinigkeit auf das wichtige Geheimniß von den Pendelschwingungen, durch welche seitdem die Naturwissenschaft eine Menge physikalischer Bewegungen erklärte, z. B. die Umdrehung der Erde, und die hernach zu Zeitmessungen und Perpendikeluhren verwendet wurden. Er sah im Dome eine an der Decke aufgehangene Lampe hin- und herschwingen.

In der Quelle aller damaligen Weisheit, dem alten Griechen Aristoteles, las er verschiedene wissenschaftliche Sätze, die zwei Jahrtausende ohne Prüfung als unumstößlich wahr gegolten, unter andern auch den, daß, wenn zwei Steine von verschiedener Größe gleichzeitig von einer Höhe herabgeworfen werden, der größere eher zur Erde komme.

„Das wollen wir doch erst einmal untersuchen,“ rief er, stieg auf den schiefen Thurm zu Pisa und warf vor Zeugen unten und oben Steine von verschiedener Größe herab. Sie kamen immer ohne Rücksicht auf ihre Größe gleichzeitig unten an, und mit jedem aufklatschenden Falle zerbröckelte ein Stück nach dem andern von dieser alten Zwingburg der Wissenschaft. Laßt uns untersuchen! Das war die einfache, aber allmächtige Zauberformel, womit die Autorität, die von oben her vorgeschriebene Formel des Wissens und Glaubens gestürzt, der Geist auf den Kampfplatz der Freiheil gerufen ward.

Demselben Thurme verdanken wir noch die von Galilei durch eine Reihe von Untersuchungen ermittelten Gesetze von der Geschwindigkeit des Falles oder der Wirkung der Schwere. Sodann untersuchte er mit besonderer Vorliebe die Wirkung der Körper je nach Schwere und Umfang auf das Wasser. Man wußte bis dahin noch nicht, warum manche Körper schwimmen, andere nicht, oder nur in bestimmter Form und Ausdehnung. Warum schwimmt das kleinste Stück Eisen nicht auf dem Wasser, wohl aber ein mit vielen hundert Centner Eisen beladenes Schiff? Durch seine Untersuchungen und sein späteres Werk „Von den schwimmenden Körpern“ entdeckte und bewies er die ersten Grundlehren der angewandten Mathematik, die wir Hydrostatik und Hydrodynamik [1] nennen, und die in der von ihm zuerst erfundenen hydrostatischen Wage, der hydraulischen Presse u. s. w. in Wissenschaft und Industrie ungemein wichtig geworden sind.

Es ist sehr erklärlich, daß der Student Galilei bald ein berühmter Mathematiker und schon 1589 Professor zu Pisa ward. Als solcher brachte er den Aristoteles, den mittelalterlichen Wissenschaftspapst, mit jedem Tage mehr um seine Autorität. Seitdem die Steine vom Thurme gefallen waren, konnte diese Revolution nicht mehr unterdrückt werden. Doch glaubte man, wie die „Automaten“


  1. Lehre von den physischen Eigenschaften des Wassers in Ruhe und Bewegung.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_102.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)