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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

die an Pracht und Geschmack selbst die Anlagen in Baden-Baden hinter sich lassen. Die Häuser sind nicht gerade Stylbauten, doch hat jedes seinen eigenthümlichen Charakter, und die gläsernen Vordächer, die von Epheu umrankten Balcons, die mannigfachen Vorsprünge und Eckthürme, Giebel und Giebelchen, deren anstrebende Form sich in den Dachfenstern und Schornsteinen wie neckisch wiederholt, geben ein Bild reichgegliederten Lebens. Ein Blick in die mitten im Winter von Wachsthum strotzenden Treibhäuser, in die reich decorirten Salons mit ihren blitzenden Spiegelscheiben, ja selbst auf die von Spalieren umzogenen Pferdeställe und Remisen belehrt augenblicklich, daß die Herren Dollfus, Köchlin und Schlumberger und wie die großen Fabrikanten Mülhausens weiter heißen, die hier zum Theil das ganze Jahr hindurch hausen, in alle Wege nicht zu den Asketen gehören. Auch hatte mein Pfarrer nicht übel Lust, darin einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner Weltanschauung zu erblicken, als wir just auf einem Punkte ankamen, wo wir die durchaus ebene Stadt frei und offen zu unsern Füßen liegen sahen.

Mülhausen, die zweite Stadt des Elsasses, ist seit 1746, wo Samuel Köchlin hier die erste Baumwollspinnerei anlegte, besonders aber in neuester Zeit erstaunlich gewachsen, also alt und neu zugleich. Vor zwanzig Jahren betrug die Zahl der Einwohner 25,000, jetzt weit über 60,000, was man freilich, um einer Erhöhung des Octrois und der Staatssteuern zu entgehen, bis Dato verschwiegen hat. Aus der von Wald und Baumpflanzungen umstandenen, bald dichter, bald minder dicht gedrängten Häusermasse ragen nicht, wie anderswo, nur die Thürme, sondern vor Allem die Schlote und Schornsteine der zahllosen Fabriken jeder Art empor, aus denen der Dampf in allen Schattirungen zwischen Schwarz und Weiß unablässig emporwirbelt. Man glaubt den Aetna qualmen zu sehen, in dessen Innerem mürrische Cyklopen schüren und hämmern, und ich konnte es meinem Begleiter nicht verdenken, daß er in wehmüthiger Stimmung einen Vergleich anstellte zwischen den Bewohnern der lichten, luftigen Paläste um uns und den von Rädern und Spindeln umsurrten Fröhnern in den schwülen Werkstätten da drunten.

„Nein,“ sagte er, „gehen Sie mir mit Ihren Industriellen; sie opfern das bessere Leben von Tausenden, um sich selbst auf Sammet und Seide zu betten.“

Fast wäre ich mit trübsinnig geworden, denn die weichen Stimmungen sind die ansteckendsten; doch nahm ich mich bei Zeiten zusammen.

„Ein hartes Urtheil!“ erwiderte ich. „Der große Fabrikant bietet nicht nur durch die Billigkeit seiner Waaren auch dem Unbemittelten die Möglichkeit zu bequemerem und vollerem Dasein; er sichert nicht nur den Armen Jahr aus Jahr ein regelmäßige Arbeit und Einnahme, sondern er läßt auch durch Anwendung der Maschinen Kohle, Wasser und Eisen die niedrigen Dienste thun, die sonst alten und neuen Sclaven zufielen. Ich finde es groß und schön, daß der Mensch auf diese Weise nicht mehr als rohe Kraft – nein, mehr und mehr als intelligentes Wesen zu wirken hat, und jene Rauchsäulen, die mit den Thürmen um die Wette gen Himmel steigen, mahnen mich an die uralten Dankopfer. Der Dichter fabelt nicht – ,Auch dieser Dampf ist Opferdampf’.“

„Nun, nun,“ sagte der Pfarrer, „Sie sehen Alles von der Lichtseite, und ich will nicht streiten. Ueberhaupt,“ fügte er wohlwollend hinzu, „verspreche ich Ihnen, von jetzt an meine Bemerkungen höchstens dem Taschenbuche anzuvertrauen – die günstigen auf ein Blatt rechts, die ungünstigen links – bis wir mit unserer Besichtigung zu Ende sind. Aber dann rücke ich heraus, denn geschenkt wird Ihnen nichts!“

Damit nahm er mich am Arme und zog mich auf den Rückweg, denn schon begann es zu dämmern. Ueber den Bahnhof schritten wir dem sogenannten Quartier Nouveau zu, dessen elegante Häuser auch meinem Begleiter nicht mißfielen. Vor Allem imponirte uns ein fast gewaltiger Bau mit der Aufschrift Société Industrielle, die Stiftung des Herrn Nicolaus Köchlin. diese Société Industrielle ist eine Gesellschaft zur Förderung des Gewerbfleißes – wie ihre Statuten besagen – gegründet um bei den Arbeitern die Liebe zum Schaffen, zur Sparsamkeit und zur Selbstbildung allgemein und kräftig zu machen. Zunächst Sparcasse, wirkt sie zwar segensreich, bleibt aber immer nur ein Nothbehelf. Gelöst wäre die Aufgabe, das Loos der Arbeiter wirklich zu verbessern – darüber waren wir bald einig – erst dann, wenn man es dahin gebracht hätte, daß der Arbeiter das gesunde Leben behaglich genießt, an ihm Freude findet, und wenn das – gestand ich offen – durch die „Arbeiterstadt“ nicht erreicht ist, so gebe ich die Partie verloren.

„Wir werden sehen,“ erwiderte mit sichtbarem Unglauben der Pfarrer, und so beruhte die Sache auf sich, bis wir am andern Morgen unsere Entdeckungsreise mit frischen Kräften fortsetzten.

Schien das Quartier Nouveau einen mehr französischen Charakter zu haben, so schwitzt in der Altstadt die ursprüngliche, germanische Natur zu allen Poren der welschen Oberhaut heraus. Schon im Hôtel sprach die Dame du Comptoir, sonst ganz Pariser Schnitt, im vertraulichen Verkehr mit den Kellnern deutsch. Wegweiser und Dienstmänner, mit denen wir heute in Berührung kamen, stotterten anfangs ein Französisch zusammen, bei dem sich der langmüthigste Akademiker im Grabe herumwälzen mußte, und waren glückselig, als sie ihr dem schweizerischen nah verwandtes Alemannisch reden durften; ja, selbst in einer ziemlich bedeutenden Buchhandlung quälte man sich förmlich ab, um seinen Noël und Chapsal nicht allzustark zu mißhandeln. Dagegen spricht die vornehme Welt ihr Französisch leicht und geläufig, und dabei steht ihr selbstredend Alles zur Seite, was an Unternehmern, Beamten und Arbeitern nach und nach aus dem innern Frankreich eingewandert ist. So kommt es denn, daß man hier auf eine deutsche, dort auf eine französische Frage das berühmte „Kannitverstan“ zur Antwort erhält und am Ende kaum noch weiß, mit welchem Volke man zu thun hat. Denselben verwirrenden Eindruck machen die Namen der Straßen; durchweg französisirt bis zu der fast ironisch klingenden Benennung Passage teutonique, müssen sie gleichwohl eine Rue Gerber und Rue Steinbächlein unter sich dulden, und was die Wassergräben betrifft, so haben sich der Oberthorcanal, Dollergraben und Walkenbach gegen jeden Firniß gesträubt, während der Canal du Tränk- und du Mittelbach in dem scheckigen Doppelgewande eines Tannhäuser’schen Liedes dahinfließen.

Statt der Rue du Sauvage entlang an der jeden Deutschen magisch anziehenden Wohnung August Stöber’s, des goldtreuen Hüters deutscher Wissenschaft und Dichtung, vorüber direct auf die Arbeiterstadt loszugehen, wählten wir den kleinen Umweg links über die Place de la Réunion. Die ganze innere Stadt ist ein heillos unschönes Gewirre von elend gepflasterten Straßen oder vielmehr Gassen und Gäßchen, Brücken und Brückchen, formlosen Plätzen und schmutzigen Winkeln, die ein aus Gräben und Canälen aufsteigender Duft sui generis beklemmend durchzieht. Außer dem in Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entstandenen Rathhause macht von diesem häßlichen Gewinkel nur der im Bau begriffene protestantische Tempel, sowie die seit einigen Jahren vollendete katholische Kirche, eine wohlthuende Ausnahme. Beide sind in gothischem Style gebaut, diese in älterem, einfacherem, schwererem, jene in späterem, leichterem und reicherem, und beide gewinnen noch in den Augen des Betrachters, wenn er erfährt, daß die bedeutenden Kosten (achtmalhunderttausend Franken für die erstere, etwa eine Million Franken für die letztere) größtentheils durch freiwillige Beiträge gedeckt sind und werden, die hier wie dort am reichlichsten aus der Börse der begüterten Protestanten fließen mußten.

Als man uns erzählte, für das katholische Gotteshaus habe ein einziger Lutheraner, Andreas Köchlin, die Summe von zweimalhunderttausend Franken gegeben, stutzte der Pfarrer einen Augenblick; dann zog er seine Brieftasche und machte schnell eine Notiz auf die rechte Seite. Er war fortan in einer sehr empfänglichen Stimmung, die durch den Anblick des von Jakob Köchlin gegründeten Waisenhauses noch gesteigert wurde, und ich fürchtete seinen Weltschmerz nicht sonderlich mehr, als wir, die Rue du Faubourg de Colmar hinabschreitend, plötzlich am Eingange der Schöpfung des unsterblichen Johann Dollfus, der Arbeiterstadt (Cité Ouvrière) standen.

Wenn je eine reale Erscheinung mich mächtig an den Wahlspruch der Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité, gemahnt hat, so ist es diese Arbeiterstadt, die nagelneu und blinkend mit ihren von sechstausend Menschen bewohnten siebenhundert Häusern in dem kurzen Zeitraume von zwölf Jahren aus einer ringsum freien, gesunden und wasserreichen Ebene emporgeschossen ist. Mitten hindurch geht als Hauptpulsader die etwa zwanzig Minuten lange und fürstlich breite, zu beiden Seiten mit Bürgersteigen, eleganten Gaslaternen und Wasserpumpen besetzte Rue Napoleon,

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