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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

und socialen Felde zu schroff entgegen, noch ist in der Literaturgeschichte nicht die unentbehrlichste, objective Ruhe eingetreten, als daß ich jetzt schon, zumal wo es einen nur so nahe stehenden Verwandten betrifft, ein ganzes biographisches Lebensbild des Dichters und Menschen zeichnen könnte.

Die Erörterung, was Heinrich Heine seinen Zeitgenossen und den folgenden Generationen Nützliches und Unvergängliches geleistet, muß späteren Decennien vorbehalten bleiben. Wohl aber kann ich heute schon einen Theil meines dem geliebten Bruder gegebenen Versprechens lösen, indem ich die folgenden kleinen Bilder aus dem Leben des Dichters mittheile, welche der künftige Biograph in den Rahmen seiner literarhistorischen Arbeit einflechten kann und die manchen der Irrthümer, viele Verwechselungen und falsche Angaben berichtigen werden, die sich in die gegenwärtigen Biographien Heinrich Heine’s absichtlich und unabsichtlich eingeschlichen haben. Ist doch namentlich das Privatleben des Dichters auf das Niedrigste verleumdet worden. Die guten Freunde werden in diesen meinen Aufzeichnungen mit aufrichtiger Theilnahme wahrnehmen, wie der Knabe, der Jüngling sich oft geberdet hat, ehe er der große Liebling des deutschen Volkes geworden. Mögen diese kleinen Lebenszüge, die ich ohne alle systematische Ordnung gebe, wie sie mir gerade vor die Erinnerung treten, zur wahren Kenntniß des Menschen, zur Aufklärung manches socialen Verhältnisses und, ich will auch dies hoffen, zur Sühne des beleidigten Genius ihr Scherflein beitragen.

Später sollen die Briefe Heinrich Heine’s an seine Geschwister, gleichfalls kleine Bilder zur Kenntniß des Dichters, und die eigenen Aufzeichnungen meines Lebens folgen.

M. H.


Als Heinrich Heine das Gymnasium in Düsseldorf besuchte, war er am Schlusse des Schuljahres einer von den Schülern, die bestimmt waren, bei dem öffentlichen Schulactus ein Gedicht vorzutragen.

In jener Zeit schwärmte der junge Gymnasiast für die Tochter des Oberappellationspräsidenten von A …. Diese war ein wunderschönes, schlankes Mädchen mit langen, blonden Locken. Ich bin überzeugt, daß manches seiner ersten Gedichte an diese reizende, fast ideale Erscheinung gerichtet war. Der Saal, in welchem der Schulactus stattfand, war Kopf an Kopf gefüllt. Ganz vorn, auf prachtvollen Lehnstühlen, saßen die Schulinspectoren. In der Mitte zwischen denselben stand ein leerer goldener Sessel.

Der Oberappellationspräsident kam mit seiner Tochter sehr spät, und es blieb nichts Anderes übrig, als dem schönen Fräulein auf dem leerstehenden, goldenen Sessel, zwischen den ehrbaren Schulinspectoren, den Platz anzuweisen. Heinrich Heine war gerade in der Declamation des „Tauchers“ von Schiller in vortrefflichem Schwunge bis zur Stelle gelangt, wo es heißt:

„Und der König der lieblichen Tochter winkt,“

da wollte es sein Mißgeschick, daß sein Auge gerade auf den goldenen Sessel fiel, wo das von ihm angebetete schöne Mädchen saß. Heinrich stockte. Dreimal wiederholte er die Stelle: „Und der König der lieblichen Tochter winkt“, aber er kam nicht weiter. Der Classenlehrer soufflirte und soufflirte; Heine hörte nichts mehr. Mit großen, offenen Augen schaute er, wie auf eine plötzlich erschienene überirdische Gestalt, auf den goldenen Sessel hin und sank dann ohnmächtig nieder. Keiner im Saale ahnte die Ursache. „Das muß die große Hitze im Saale gethan haben,“ sagte der Schulinspector zu meinen herbeieilenden Eltern und ließ alle Fenster öffnen.

Nach vielen Jahren hat er mir den Zusammenhang dieser Jugendbegebenheit erzählt, indem er sich oft mit dem Ausrufe unterbrach: „Wie war ich damals unschuldig!“


Unsere Mutter, die überhaupt für eine ziemlich strenge Erziehung war, hatte von unserer ersten Jugend an uns daran gewöhnt, wenn wir irgendwo zu Gast waren, nicht Alles, was auf unseren Tellern lag, aufzuessen. Das, was übrig bleiben mußte, wurde der „Respect“ genannt. Auch erlaubte sie nie, wenn wir zum Kaffee eingeladen waren, in den Zucker so einzugreifen, daß nicht wenigstens ein ansehnliches Stück zurückbleiben mußte.

Einstmals hatten wir, meine Mutter und ihre sämmtlichen Kinder, an einem schönen Sommertage außerhalb der Stadt Kaffee getrunken. Als wir den Garten verließen, sah ich, daß ein großes Stück Zucker in der Dose zurückgeblieben war. Ich war ein Knabe von sieben Jahren, glaubte mich unbemerkt und nahm hastig das Stück Zucker aus der Dose. Mein Bruder Heinrich hatte das bemerkt, lief erschrocken zur Mutter und sagte ganz eiligst: „Mama, denke Dir, Max hat den Respect aufgegessen!“

Ich habe dafür eine Ohrfeige bekommen, vor der ich mein ganzes Leben Respect behalten habe.


Von meiner frühesten Jugend an liebte ich die deutschen Dramatiker; viel mag zu dieser Neigung beigetragen haben, daß ich, fast Kind noch, sehr oft in das Theater mitgenommen wurde. Es war dies die Zeit, wo die Ritterspiele auf der Bühne im vollen Flor standen. „Johann von Montfaucon“, „die Kreuzfahrer“ etc. waren des Knaben Lieblingslectüre. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Mein Bruder Heinrich bemerkte ungern diese meine Lectüre.

„Max,“ sagte er eines Tages zu mir, „solche Bücher verderben den Geschmack, ich werde Dir ein anderes Buch schenken, damit magst Du Dich in Deinen Freistunden beschäftigen. Es ist auch ein Theaterstück.“ Bei diesen Worten nahm er von seinem Tisch ein kleines, in schwarze Pappe eingebundenes Büchlein und sagte: „Dies schenke ich Dir.“ Ich schlug des Büchleins Decke auf und las zum erstenmal den Titel: „Faust, von Goethe. Der Tragödie erster Theil“.

Ich blickte in die ersten Blätter hinein, die den wunderschönen Prolog enthalten, dann, nach echter Knabenart, schlug ich die letzte Seite auf, wo die Worte:. „Heinrich her zu mir,“ – „Sie ist gerettet,“ mir so räthselhaft klang. Ich sah meinen Bruder ganz erstarrt an, als wie Einer, der da sagen wollte: „Die Komödie begreife ich nicht.“ Er nahm darauf das Buch in die Hand, griff rasch zur Feder und schrieb Folgendes auf die innere Seite des Deckels:

„Dies Buch sei Dir empfohlen,
Lies nur, wenn Du auch irrst:
Doch, wenn Du es verstehen wirst,
Dann wird Dich auch der Teufel holen.“

Viele Jahrzehnte waren darüber hingegangen, als wir bei meiner Anwesenheit in Paris, einige Jahre vor dem Tode des Dichters, auf Goethe’s „Faust“, zweiten Theil, zufällig zu sprechen kamen. „Ich habe nie vergessen, Heinrich,“ sagte ich, „was Du mir einst in dem ersten Theile des „Faust“ zur Erinnerung eingeschrieben hattest, und citirte obige Verse.

„Nun, Max, was antwortest Du mir jetzt?“

Ich nahm ein Stück Papier und schrieb mit Bleifeder Folgendes

„Lieber Bruder, hab’s verstanden,
Leider! wie Du’s selbst gedacht,
Doch den Goethe nicht begriffen,
Der den zweiten Theil gemacht.“

Mein Bruder lächelte, drückte mir die Hand und sagte: „Dieses Blättchen soll zu meinem Nachlaß gehören.“

Der von Heinrich mir geschenkte „Faust“ ist mir auf eine unbegreifliche Weise schon längst abhanden gekommen. Die Verse mit seiner vollen Namensunterschrift, Ort, Datum und Jahreszahl waren kalligraphisch schön geschrieben. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß vielleicht nach einem Jahrhundert dies Büchlein auf irgend einer Auction seltener Autografen erscheinen mag und ein origineller Engländer dafür eine gute Summe von Pfunden Sterling bieten wird. Ich protestire jedoch hiermit feierlichst gegen den Verkauf dieses mir unehrlicher Weise abhanden gekommenen Buches, wenn nicht die Hälfte der dafür gebotenen Summe für dieses mein Eigenthum meinen derzeitigen Erben, mögen sie Heine oder Arendt-Heine heißen, auf das Gewissenhafteste ausgezahlt wird.


Es war die Absicht unserer Mutter, daß wir sämmtliche Geschwister recht musikalisch gebildet würden. Heinrich sollte Violine spielen lernen. Ein Lehrer wurde angenommen, die Musikstunden wurden bestimmt, die auf einem oberen Stübchen eines in dem Garten gelegenen Flügels unseres Hauses in Düsseldorf stattfinden sollten. Meine Mutter kümmerte sich um nichts weiter, als daß der Lehrer allmonatlich richtig bezahlt wurde. Heinrich that, nämlich in Worten, als ob er ganz für die Violine lebte.

So war ein Jahr hingeflossen, als einstmals um die Zeit der Musikstunde meine Mutter im Garten spazieren ging. Zu ihrer größten Befriedigung hörte sie ein gutes und fertiges Violinspiel. Sie freute sich schon in der Seele über die Fortschritte ihres

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_074.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)