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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

von der höchsten Bedeutung geworden, daß er zuerst es unternahm, die Relationen venetianischer Gesandten von allen Höfen Europas, die handschriftlich in den Bibliotheken brach lagen, für die Geschichte auszubeuten. Denn aus ihnen ergab sich ihm nicht nur, wie aus anderen Archivalien, der Gang der Verhandlungen, das Spiel der diplomatischen Künste; nichts war der Beobachtung dieser scharfsinnigen, kaufmännisch-wachsamen Italiener entgangen: über Person und Charakter der Fürsten und Minister, über Hof und Verwaltung, Finanzen und Kriegsmacht, Gesinnung der Unterthanen erstatteten sie ihrer Signoria ausführlichen Bericht, so wenig auch den Fremden solche Anatomie ihrer Höfe, wie sie es nannten, behagen mochte. Es ist gar nicht zu sagen, wie durch diese Hülfsmittel Ranke’s natürliches Talent zu lebendiger Charakteristik, zu anschaulicher Detailmalerei gefördert worden. Die Lectüre dieser Ranke’schen Bücher übt daher einen zwiefachen Reiz auf uns aus: wir überschauen von hohen Standorten aus die gewaltigen historischen Bewegungen und bekommen doch auch einen Einblick in das innere Leben der einzelnen Staaten, ja der handelnden Individuen selber; wir treiben große Politik und lernen zugleich das tägliche Gebahren der Menschen wie aus persönlichem Umgange kennen.

Auch Stil und Form der Darstellung dienen vortrefflich, die Vorzüge des Inhalts in’s Licht zu setzen. Die Sprache fließt rein und munter dahin, bald in gelenken Perioden, bald behend in kurzen Sätzen; häufig wird eine Frage aufgeworfen, wie eine leichte Welle, hier und da ein lebhafter Ausruf. Nirgends trifft man eine schwere Bildersprache; der eigentliche Ausdruck in seiner Einfalt ist der Schmuck der Rede. Ungemein reich an Sentenzen ist die Darstellung; aber sie schießen auf, natürlich, wie Blumen am Rande des Baches. Es sind allgemeine Bemerkungen concreten Inhalts, wie sie sich gleichsam unwillkürlich an jedem Punkte der Erzählung einstellen. Denn nichts liegt diesem Historiker ferner, als abstracte Sätze von außen her in seinen Stoff hineinzutragen. Und das führt uns auf die merkwürdigste Eigenthümlichkeit Ranke’s, die von jeher die verschiedenste Beurtheilung erfahren hat.

Immerdar nämlich hielt er fest an jenem Ideale der reinen Geschichte, wie er es ursprünglich ergriffen, daß sie nur zu sagen habe, wie es eigentlich gewesen, nur das Ereigniß in seinem wirklichen Verlaufe herausarbeiten müsse aus der Vergessenheit oder den Irrthümern der Ueberlieferung; alles Urtheilsprechens aber nach unseren eigenen Meinungen und Wünschen glaubt er sich streng enthalten zu müssen. Ueberaus gewissenhaft trachtet er dem Wahlspruche nach: „Ohne Groll oder Vorliebe!“ Man hat deshalb häufig seine Geschichtschreibung eine charakterlose genannt; und das wenigstens müssen wir bekennen: in den Ranke’schen Schriften scheint die bewegliche Seele des Autors an den Felswänden der Ereignisse zu zerrinnen. Man wird dabei wohl an die Weise Goethe’scher Romane, etwa die Wahlverwandtschaften, erinnert: die Begebenheit rollt an uns vorüber wie eine Naturerscheinung, unbekümmert, ob wir Ja oder Nein dazu sagen.

Zwar muß man sich die Objectivität Ranke’s nicht durchaus als eine grenzenlose vorstellen; erstaunlich unparteilich geht er namentlich in confessionellen Fragen zu Werke; denn so innig er in der deutschen Geschichte das Wesen Luther’s erfaßt, so großartig weiß er in seinen Päpsten die katholische Restauration zu schildern, wodurch ihm freilich die Ehre, auf dem römischen Index zu prangen, nicht erspart worden. Allein neben jener inneren Religiosität, die wir an ihm wahrnehmen, verräth sich uns doch auch noch eine andere persönliche Seite des Verfassers, ich meine die entschiedene Vorliebe für die große politische Erscheinung seiner Epoche, für die legitime Monarchie, das starke Königthum, das im Besitze der höchsten Autorität, erhaben über den Hader der Parteien, den Bürgerzwist schlichtet, die Geister führt, das Königthum, wie es in Heinrich dem Vierten, in Elisabeth, in Friedrich dem Großen hervorleuchtet. Von dieser warmen Theilnahme fallen sogar einige Strahlen auf minder würdige Vertreter der legitimen Selbstherrschaft, wie z. B. auf die letzten Stuarts, bei denen uns doch nicht einmal große politische Gedanken für die dürftige Treulosigkeit ihres Charakters entschädigen.

Auch wird man gerade, wenn man die Geschichte der englischen Revolution bei Ranke liest, an einen anderen Vorwurf erinnert, der ihm zuweilen gemacht worden, daß er von den tiefen Bewegungen des eigentlichen Volksgeistes keine rechte Anschauung habe oder gebe. In der That, von der enthusiastischen Erregung der Massen ist in seiner Darstellung der Cromwell’schen Zeit gar wenig zu spüren; vielleicht hätte er überhaupt seine englische wie seine französische Geschichte treffender mit dem Titel „Geschichte der englischen, der französischen Monarchie“ bezeichnet. Dennoch beweist seine deutsche Geschichte, daß er gar wohl in den Kreisen des Volkes heimisch sein kann; die Abschnitte über den Bauernkrieg oder über die Reformation in den Reichsstädten und den Landgemeinden wird Niemand ohne herzliche Theilnahme lesen. Und ist nicht Luther selbst die populärste Gestalt, der größte Volksmann, der jemals unter uns aufgetreten? Es bleibt daher diese deutsche Geschichte, wenn auch die der Päpste durch den fast romanhaften Reiz der Contraste auf den ersten Blick noch glänzender sich ausnimmt, dennoch Ranke’s gediegenstes Werk, eine wahrhaft nationale That, für die ihm jeder Deutsche zu Dank verpflichtet ist.

Zum Schluß möchte es an der Zeit sein, von Ranke’s Stellung zur Gegenwart überhaupt zu reden. Seine großen Geschichten führen uns stets bis an die Schwelle des heutigen Weltalters, ohne sie zu überschreiten. Hält er vielleicht die Ereignisse der Revolutionszeit für noch nicht reif zur historischen Behandlung? Im strengsten Sinne verstanden mag das seine Ansicht sein. Wie sollte aber ein so geistreicher, alles Menschliche so scharf beobachtender Mann nicht auch den lebendigsten Antheil an der werdenden Geschichte der Gegenwart nehmen? Es wäre, als ob ein Geognost vor den noch andauernden Umbildungen der Erdrinde die Augen schlösse. Kein Wunder daher, daß Ranke eben die neueste Geschichte am häufigsten zum Gegenstande seiner Vorlesungen erkoren. Noch mehr: er unternahm es, in den Jahren 1832 bis 1836 im Vereine mit Savigny u. A. eine eigene historisch-politische Zeitschrift herauszugeben, in der Absicht, denkende Zeitgenossen zu belehren, auf daß sie ihre Zeit nicht nach irgend einem Begriffe, sondern in ihrer Realität zu verstehen und mitzuleben vermöchten. Die Zeitschrift wendet sich an die Menge der wohlgesinnten, ruhigen, verständigen Männer in Deutschland, welche Fähigkeit und Neigung haben, das Wesen von Scheine zu unterscheiden; ihrer Ueberzeugung einen Mittelpunkt zu geben, ist der Ehrgeiz des Verfassers. Es ist deutlich, daß er damit einen Damm aufrichten wollte wider die seit den Tagen der Julirevolution immer mächtiger andringende Fluth der liberalconstitutionellen Ideen. Die Gährung in den constitutionellen Staaten Süddeutschlands, die Aufregung der politischen Presse ist ihm widerwärtig; den Ausdruck der Gedanken möchte er freigegeben, den Ausbruch der Leidenschaft jedoch verhütet sehen. Den verschiedenen Staaten Deutschlands eine straffe Einheit unter gleichen poetischen Formen auflegen, das heißt ihm die naturwüchsige Besonderheit der einzelnen Provinzen gefährden. „Wollt ihr die Unterschiede vernichten,“ lautet sein Warnruf, „hütet euch, daß ihr nicht das Leben tödtet!“

Man wird dabei unwillkürlich an die Anschauungen Friedrich Wilhelm’s des Vierten erinnert. Die Nation aber konnte diesen Mahnungen ihres großen Geschichtschreibers unmöglich mit der Theilnahme lauschen, die sie ihm sonst geschenkt; sie war sich bewußt, mit ihren freisinnigen Wünschen nach einem nothwendigen und idealen Ziele zu streben; von wannen ihr der Anstoß dazu gekommen, verschlug ihr nichts. Fast schien es, als ob Ranke, der sich so sorgfältig gehütet, die Gegenwart in die Vergangenheit hineinzutragen, hier gleichsam den umgekehrten Anachronismus beginge, dem heutigen Dasein vom Standpunkte früherer Epochen aus Maß zu geben. Auch waren mit solchen Worten die Stürme nicht mehr zu bannen. Ranke ist, so viel wir wissen, seit 1836 nicht wieder als politischer Schriftsteller hervorgetreten – hernach erst hat er seine bedeutendsten und umfangreichsten historischen Arbeiten vollbracht – und wie viel hat nicht seitdem das deutsche Volk selber an politischer Erfahrung gewonnen! Wer wollte da noch rechten über die Meinungen der dreißiger Jahre? –

Wir haben versucht, was wir dem Schriftsteller verdanken, kurz andeuten; ein eigenes Buch würde es erfordern, wollten wir noch alle die musterhaften kleineren kritischen oder historischen Aufsätze aus Ranke’s Feder besprechen, deren unter anderen auch jene Zeitschrift eine Menge enthält. Noch minder aber können wir seiner Lehrthätigkeit in den folgenden Bemerkungen gerecht werden, denn die Wirksamkeit eines Lehrers, auf der persönlichsten Anregung beruhend, bleibt immerdar unermeßlich. Mehr denn vierzig Jahre sind es schon, daß Ranke an der Berliner Hochschule die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_102.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2017)