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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Ruhe und Besonnenheit, Eigenschaften, die er in seiner Stellung auf das Beste anzuwenden weiß. In seinen Reden zeigt er ein gediegenes Wissen, eine lichtvolle Klarheit, großen Scharfsinn und juristische Routine, obgleich er weniger durch sein rhetorisches Talent als durch seine ausgezeichneten Commissionsberichte, besonders über die Militärfrage, im Abgeordnetenhause sich einen wohl verdienten Namen erworben hat. Bescheiden im Hintergrund hält sich Moritz Wiggers, eine schmächtige Gestalt mit feinen, nicht uninteressanten Zügen, die sich erst beleben, wenn er von den Leiden und den Uebelständen seines Vaterlandes Mecklenburg spricht. Der Klang seiner nicht allzu kräftigen Stimme hat etwas Ergreifendes und erinnert unwillkürlich an sein trauriges Geschick. Bekanntlich war Wiggers das Opfer der Reaction, die ihn auf das Aeußerste mit ihrem Haß verfolgte. Wegen Begünstigung der Flucht Kinkel’s angeklagt und freigesprochen, wurde er in den Rostocker Hochverrathsproceß verwickelt und zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurtheilt, indem man willkürlich dem betreffenden Gesetze eine rückwirkende Kraft zuerkannte. In der Strafanstalt zu Dreibergen wurde Wiggers als gemeiner Sträfling behandelt und mit Abschreiben geistloser pietistischer Predigten beschäftigt, nachdem er die ihm angesonnenen Schuhmacher-Arbeiten abgelehnt. Trotz aller Anstrengungen, seine Wahl anzufechten, sitzt jetzt der ehemalige Zuchthäusler im deutschen Reichstage, dem seine Anwesenheit zur Ehre gereicht. –




Nach Paris.
Praktische Winke für Ausstellungsreisende. Von H. A. Berlepsch.
II.
Nicht vor 1. Mai. – Eintrittsroute. – Reiseproviantkorb unerläßlich. – Ankunft in Paris. – Octroilinie. – Commissionäre. – Droschken und ihre Preise. – Wohnungssuchen. – Pariser Gasthofswesen. – Deutsche Kellner. – Grand Hotel und Hotel de Louvre.
Paris, 6. April.

Der Koffer ist gepackt, die Abreise kann erfolgen. Bevor wir jedoch unser Billet lösen, muß ich eine allgemeine, freilich nur momentan gültige Warnung vorausschicken. Lasse sich Niemand verleiten vor Anfang oder Mitte Mai zu kommen (wenn nicht geschäftliche Interessen dazu drängen). Die Ausstellung ist zwar eröffnet, aber sie ist noch nicht etablirt. Noch allenthalben sieht es „werdend“, entwickelungsbedürftig, im Großen zu Faden geschlagen aus und, sowohl nach einmüthiger Meinung der im Gebäude Arbeitenden, wie nach dem Maßstabe dessen, was bei angestrengtester Arbeit in den letzten vierzehn Tagen geschaffen ward, kann vor dem ersten Mai nicht die Rede davon sein, daß die Ausstellung den Eindruck des Fertigen, Abgerundeten macht. So wie im inneren Gebäude, sieht es auch im Parke aus. – Also vor Mai, lieber Leser, wollen wir uns in Paris nicht begegnen.

Nichtsdestoweniger setze ich meine Reisevorschläge fort.

Auf welcher der sechs Eisenbahn-Eintrittsrouten aus Deutschland und der Schweiz ein Jeder sein Ziel zu erreichen streben wird, hängt nicht nur vom Wohnorte des Einzelnen (ob Hamburg, Berlin, Nürnberg oder Wien) ab, sondern auch von den Vortheilen, welche die Combinationen der verschiedenen befreundeten Eisenbahndirectionen darbieten werden. Dennoch erlaube ich mir hier einen berathenden Wink zu geben.

Wer nicht die Absicht hat, vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden ununterbrochen eingepfercht wie in einem Menageriekasten zu sitzen und sich mumienartig steif-eingerostete Kniee zu holen, dem rathe ich, das Stückchen topographischer Horizonterweiterung, das er von der Reise mit heimbringen will, sich auf dem Hinwege zu erobern, will sagen: wer im Vorübergehen Köln, Aachen, die prächtigen Rheinlande, Mainz, Frankfurt, Wiesbaden, Baden-Baden, Straßburg etc. und was nun eben auf seiner Invasionslinie liegt, touristisch genießend mitnehmen will, der verspare es nicht auf den Heimweg. Auf der Rückreise hat er keinen Sinn mehr dafür: Paris und seine Kunstschätze, sein babylonischer Thurmbau und seine raffinirte Genußjagd, sein nervenlähmender Spectakel und sein Staub haben ihn dann dermaßen übersättigt, daß er mit Goethe’s Faust-Gretchen nur inbrünstig rufen wird: „Licht! Luft! Nachbarin, Euer Fläschchen!“ was so viel heißen soll, als: „Nur erst wieder Heimath, Ordnung, herkömmliches Leben!“

Zwei Eintrittslinien sind vorzugsweise schön, d. h. für Denjenigen, der Freude an der Natur neben dem Interesse am großen industriellen Leben hat; dies sind die beiden bei Forbach (resp. schon bei Neunkirch) zusammenstoßenden Linien a. durch’s Rheinthal hinauf bis Bingerbrück und von da durch das burgenreiche Nahethal, und b. durch die herrliche Pfalz über Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen etc. Letztere ist jüngster Zeit dadurch besonders in den Vordergrund getreten, daß sie, seit Eröffnung der Strecke Würzburg-Heidelberg, die directeste Linie aus Mitteldeutschland geworden ist. Ein Bummeltag in Würzburg, ein ditto solcher in dem paradiesisch gelegenen Heidelberg und ein dritter in dem kleinen weintriefenden Neustadt an der Haardt, um einen Blick in die treue deutsche Pfalz zu thun (Trifels, Anweilerthal, Dahner Felsenland), die werden zu den schönsten Reiseerrungenschaften Derer gehören, welche diese Linie zu benutzen in den Fall kommen. Für die anderen brauche ich nicht zu plaidiren, sie sind schon zu bekannt.

Ist man über die Grenze Frankreichs eingetreten, so rathe ich ohne Aufenthalt nach Paris zu fahren. Die Gegend ist gegenüber dem, was wir in Deutschland Schönes haben, fast überall bodenlos langweilig, – ebene Flächen, zum Theil miserabel bewirthschaftet, oder Strecken in der Champagne, die man am besten in der Ecke des Coupés verschläft. Aber eine Vorsichtsmaßregel! Man denke sich die französischen Eisenbahnen nicht so samaritanisch-gemüthlich, wie die deutschen, wo es auf jedem Haltepunkt ein wohlproviantirtes Abfütterungszimmer giebt und die erwerbs-vigilanten Bahnhofswirthe ihre Aufwärter mit weißschäumigen, dursterweckenden Bierseideln und duftenden Bratwürsten zwischen knusperigen, frischen Semmeln an die Waggons schicken; wo die Schaffner oder Conducteure besorgt darum sind, daß man zeitig genug wieder einsteige und zwar in den rechten Waggon und in das rechte Coupé, und wo sie, je nach dem Grade der landesüblich mehr oder minder gangbaren Höflichkeit, auf alle Fragen bereitwillig Antwort geben, – für das Alles hat der Franzose keine Zeit, keine Sympathien, kein Bedürfniß. Buffets giebt’s nur an den Hauptstationen, diese oft aber so versteckt, so entfernt, daß die Möglichkeit, sie während der Reise zu benutzen, mehr als illusorisch wird. Ganz besonders ist dies bei den Expreß- (Schnell-) Zügen der Fall. Da wird man schon sechs oder acht Stationen vor solch’ einem Abfütterungspunkte vom Conducteur kurz befragt, ob man in Belfort, Nancy oder wo es eben ist, zu dejeuniren oder zu diniren gesonnen sei, um die Anzahl der Couverts telegraphisch bestellen zu können. Solch’ ein Couvert ist, um mich sprüchwörtlich auszudrücken, in vielen Fällen eine für vier oder fünf Francs im Sack gekaufte Katze. Wer nicht will, der hat gegessen, d. h. er kann hungern bis Paris, unterwegs giebt’s für ihn nichts zu beißen und zu brechen. Also, lieben Freunde, ein hübsches Körbchen gepackt mit allerhand appetitlichem Proviant – dann kann man der französischen Reiseungemüthlichkeit keck in die Augen schauen.

Wir kommen in Paris an. Die Billets werden nicht, wie auf den deutschen und schweizerischen Bahnen, schon auf der vorletzten Station abgenommen, sondern meist, zur Bequemlichkeit der Controle, zur Unbequemlichkeit der Reisenden erst, indem man decken- und sackbepackt, den Regenschirm unter dem einen, die Hutschachtel unter dem anderen Arme, dem Ausgange zuwankt. Man ist zwar in Paris, aber noch Gefangener, – man hat die Enceinte, die Octroi-Linie (die befestigten Einfassungsmauern als Grenze der städtischen Accise für Brod, Mehl und Getränke) zwar passirt, aber man ist von den Cerberusen der städtischen Steuerabgaben noch nicht beschnüffelt worden. Darum Geduld zehn Minuten, eine Viertelstunde oder noch länger, bis alle Koffer, Kisten, Nachtsäcke und Effecten ausgeladen und in einem unendlich langen Saale auf einer Pritsche paradeförmig aufgestellt sind. Dann öffnen sich die Thore des Wartesaales, man tritt oder stürzt ein, sucht mit den Augen, den Bagagezettel in der Hand, nach seiner Fahrhabe und hat abermals zu erklären, weder Schinken, Wurst, Speck, Mehl, noch sonstige Victualien in Gemeinschaft mit seiner

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_255.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)