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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Alte Städte und altes Bürgerthum.
1. Nürnberg im Norden. Von Moritz Busch.
I.

Es war in der dunkeln Zeit kurz nach der Unterwerfung und Bekehrung der heidnischen Sachsen durch Karl den Großen, als sich in einem Walde nicht fern von dem Bischofssitz, den der Kaiser im heutigen Elze für Ostphalen gegründet, ein Wunder begab.

Karl’s Sohn, Ludwig der Fromme, hielt während eines Besuchs in Elze einige Stunden nordöstlich von da eine Jagd ab. Dabei wurde eine Messe gelesen, bei welcher der Priester eine Kapsel mit Reliquien der Jungfrau Maria an einem Baume aufhing, der ihm als Altar diente. Bei der Heimkehr geschah es, daß die Kapsel vergessen wurde, und als man sich ihrer erinnerte und zurückkehrte, um sie zu holen, siehe da hatte ein unterdeß mit der Schnelligkeit von Jonas’ Kürbis aufgesproßter Rosenstrauch das heilige Gefäß dermaßen mit seinen Ranken umsponnen, daß man durchaus nicht zu ihm gelangen konnte. Der Kaiser, davon benachrichtigt, verstand den Wink. Die Mutter Gottes wollte, daß ihre Reliquien hier blieben, und das geschah also. Man baute an die Stelle eine Capelle und verlegte dann sogar den Bischofssitz an die Wunderstätte in der Wildniß.

So ungefähr die Legende, deren volle Glaubwürdigkeit zu beweisen ich dem würdigen Küster überlasse, welcher sie mir im vorigen Sommer mit der solchen Hütern von Heiligthümern eigenen Salbung erzählte. Es wird ihm nicht leicht fallen. Eins aber kann er für sich anführen, den Rosenstock, der in wunderbarer Jugendlichkeit noch heute grünt und blüht und der dieses sein ewig junges Leben, diese unerschöpfliche und unzerstörbare Triebkraft seiner ganzen Umgebung mitgetheilt zu haben scheint. Wohl tausendjährig ist er das älteste lebende organische Gebilde Norddeutschlands. Die kleine Waldcapelle neben ihm ist zu einem stattlichen Dome emporgewachsen, und von dem Dome, gleichsam dem Stamme, haben sich im Laufe der Jahrhunderte langgestreckte Straßen und Gassen, gleichsam die Aeste und Zweige, nach einer Anzahl anderer Kirchen, gleichsam den Blättern und Blumen des Rosenstrauchs der Urzeit, ausgebreitet. Dieser Rosenstock, welchen die Gottesmutter der Legende, vielleicht aus dem Paradiese, in die Wildniß des neunten Jahrhunderts pflanzte, ist im neunzehnten noch grün und gesund, der Segen aber, der in ihn gelegt war, hat ihn zugleich zu einer unserer merkwürdigsten Städte aussprossen lassen.

Die Stadt, von welcher ich rede, ist Hildesheim, die älteste, die sehenswertheste, und in gewissen Beziehungen die lebensvollste Mittelstadt des deutschen Nordens, reich vor Allem an Blüthen, menschlichen Kunsttriebes, wie sein Rosenstock reich ist an natürlichen Blüthen, neben diesem Wunder für den Botaniker nicht weniger ein Gegenstand der Bewunderung für den Freund architektonischer Schönheit, wegen der Fülle privater und öffentlicher Bauwerke aus alter, zum Theil uralter Zeit, die es aufweist, mit ähnlichem Rechte wie Lübeck das Nürnberg des Norden’s genannt.

Im Folgenden ein paar von den Hauptmomenten aus der Geschichte der tausendjährigen Bischofsstadt, dann in einem zweiten Abschnitt eine Schilderung ihrer jetzigen Gestalt und ihres heutigen Lebens.

Die von der Mutter Maria oder, wie die weltliche Geschichtsforschung meint, von Kaiser Ludwig’s praktischem Blick für das Bisthum Ostphalen gewählte Centralstätte auf einem der Hügel, zwischen denen sich die harzentsprossene Innerste in die große norddeutsche Tiefebene hinauswindet, war ein glücklicher Gedanke. Infolge dessen wuchs der neugegründete Ort vermuthlich – wir schauen auf Dämmerungszeiten zurück, in denen wir nicht viel mehr als die Namen der zwölf ersten Bischöfe erkennen und das Uebrige zu errathen haben – ziemlich rasch. Erst eine Capelle, die wir uns sehr bescheiden vorzustellen haben, dann eine größere, doch ebenfalls noch sehr anspruchslose Kathedrale nebst den strohgedeckten Wohnungen für die zu ihr gehörige Geistlichkeit, das Ganze gleich einer Burg gegen die von Norden her streifenden Heiden mit starken Mauern umgeben, wurde diese Niederlassung von Priestern und Mönchen durch Ansiedelung von schutzsuchendem Laienvolk, Freien und Unfreien, die sich ihrerseits zuletzt gleichfalls mit Festungswerken umschirmten, zur Stadt. Von der Kathedrale aus wurden Klöster als Vorwerke der Burg gegründet, die Stadt setzte Vorstädte an und allmählich entwickelte sich ein reger Verkehr von Handwerk und Handel.

Erst mit dem zwölften Nachfolger Gunthar’s, des ersten Bischofs der Diöcese, mit Bernward, lichten sich für uns die Zeiten. Der Glanz des Genies dieses großen Mannes leuchtete weit hin über die dunkeln Lande und strahlte, verstärkt durch die Heiligenglorie, mit der die Kirche später sein Haupt umgab, auch in unsere Tage hinein, obwohl fast tausend Jahre ihn von uns trennen. Indem er ein Helfer der Armuth war, indem er Handwerk und Kunstfleiß der Bürger durch Rath und That förderte, indem er die ganze Stadt in die vorhandenen Festungswerke einschloß und indem er die bis Hildesheim vorgedrungenen Normannen mit gewaffneter Hand zurückschlug, indem er für Bildungsanstalten sorgte, war er in Wahrheit, was sein Biograph von ihm sagt, der Patron der Stadt. Die Wunder, die sein Leichnam that, wollen wir zu dem des Rosenstocks legen, die bewundernswerthen Werke, die der lebende Bernward als Künstler in einer rauhen und wenig schöpferischen Zeit geschaffen und die Hildesheim noch heute schmücken, sollen uns seine wahren Wunder sein. Die ehernen Thürme am Paradies des Domes, die metallene Säule mit Scenen aus dem Leben Christi auf dem Platze vor demselben, vor Allem aber die Michaeliskirche, das großartigste Werk der deutschen Baukunst jenes Jahrhunderts und noch jetzt, obwohl Vieles von der alten Anlage verschwunden ist, eine der schönsten romanischen Kirchen Deutschlands, sind solche Wunder.

Bernward’s Nachfolger zu Ehren, dem später gleichfalls heiliggesprochenen Godehard, gründete Bischof Bernhard der Erste im ersten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts ein Kloster und daneben die herrliche St. Godehardskirche im spätromanischen Stil, das zweite classische Denkmal der mittelalterlichen Baukunst in Hildesheim. Andere Bischöfe fügten Anderes hinzu, die meisten der hier herrschenden Kirchenfürsten der späteren Zeit sorgten mehr für weltliche Dinge, und sie hatten Ursache dazu, indem einerseits der raubsüchtige Adel und die auf Ländererwerb bedachten Fürsten der Nachbarschaft ihren Besitz bedrohten, andererseits das Bürgerthum den geistlichen Herren gegenüber sich fühlen lernte und immer energischer darnach strebte, sich von ihnen unabhängig zu machen.

So hatte namentlich Bischof Gerhard vor nunmehr fünfhundert Jahren viel mit Raubrittern und deren Gönnern an den nächstgelegenen Fürstenhöfen zu kämpfen, und einer dieser Kriegsstürme führte zu einer Schlacht, welche zu den Glanzpunkten in der Geschichte Hildesheims zählt und über die ich, da man im letzten Sommer ihr fünfhundertjähriges Gedenkfest feierte, ausführlicher berichte. Herzog Magnus von Braunschweig und Erzbischof Dietrich von Magdeburg mit vielen Grafen und Edlen sagten im August 1367 Bischof Gerhard Fehde an, und bald darauf erschienen sie mit einem zahlreichen Heer raubend und brennend auf dessen Gebiet. Ruchlos schonten sie selbst die Kirchen nicht. Ein Kundschafter meldete, der Bischof sei in Angst und suche vor dem Altar Hülfe. Gerhard aber war andern Schlags. Er verzagte nicht, sondern waffnete seine Bürger, Bauern und Mönche und rückte dem Feinde mannhaft entgegen. Sein Gebet zur heiligen Jungfrau hatte gelautet: „Verleih’ uns den Sieg, dann sollst Du unter einem goldenen Dache wohnen; wo nicht, so wirst Du fortan auch kein Strohdach mehr Dein nennen.“

Am 3. September, dem Tage des heiligen Remaclus, standen sich die Heere auf einem Felde zwischen den Dörfern Farmsee und Dinklar, das seitdem der Streitacker heißt, gegenüber. Gerhard hatte fast nur Fußvolk, und seine Leute verhielten sich zu den Gegnern, die in der Reiterei ihre Hauptstärke hatten, wie Eins zu Drei. Der streitbare Bischof aber ließ sich dadurch nicht stören. „Leve Keerel,“ rief er, auf die Reliquien hinweisend, die er bei sich trug, „truret nich, hie hebbe ik dusent Mann in miner Mawen!“ (Liebe Kerle, trauert nicht, hier habe ich tausend Mann in meinem Aermel.) Die übermüthige Ritterschaar, voll Verachtung vor dem bürgerlichen Häuflein, stürmte in wildem Rennen siegesgewiß gegen dieses heran. Aber die Bischöflichen hielten den Anprall aus und drangen muthig vor. Lange wehrten sich die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_006.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)