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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

hatte, als sollten Thätlichkeiten den Demonstrationen folgen, erschien eine dritte Person auf dem Schauplatze – eine arme, kränklich aussehende, abgehärmte Person mit gutmüthigem Gesichtsausdruck. ‚Was hast Du, Sophie? Sei nicht bös! Sei brav!’ Und als das Mädchen den Ton dieser Stimme hörte, breitete sich ein Ausdruck unendlicher Freude über das eben noch zornige Gesicht; mit gefälligem Gurgeln und Grunzen lief es herzu, leckte der Alten das Gesicht, wie ein Hund thut, und legte die Wange an die ihrige.“

„Wir sind am Ziele!“ sagte der Doctor, indem wir unter eine kleine Vorhalle traten. „Seien wir vorsichtig. Ich habe Ihren Namen nicht genannt; wüßte man ihn, so könnte dies ein Hinderniß

Emil N. achtzehn Jahre alter Microcephale.

für unsere Absichten sein. Sie sind also nur ein Freund, der sich für Fälle dieser Art interessirt. Freilich, wenn Noth an den Mann geht und wir geradezu gefragt werden, wollen wir keinen falschen Namen angeben; bis dahin aber den Ihrigen verschweigen, ist wohl keine Sünde.“

Der Pater Rector gewährte unsere Bitte, ohne nach meinem Namen zu forschen, und ertheilte augenblicklich Befehl, den Jungen vorzuführen.

„Emil,“ erzählte er uns, „ist von wohlgebildeten Eltern. Der Vater ist gestorben, die Mutter lebt noch. Der stärker verbildete ältere Bruder, der mit ihm hier lebte, starb vor zwei Jahren; eine weniger verbildete, aber auch noch thierische Schwester lebt in einer andern Anstalt. Er hat hier noch einen Bruder, der ein hübscher, intelligenter Knabe ist. Wir halten den Jungen wie ein Hausthier. Man spielt und amusirt sich mit ihm, wie mit einem gutmüthigen, aber schlecht erzogenen Hunde. Der Bruder war bösartig und tückisch, biß gefährlich und ließ sich, einmal in Wuth, kaum von ein paar Männern bändigen; dieser würde Keinem etwas zu Leide thun, und so thut ihm auch Niemand etwas zu Leide.“

Das seltsame Wesen trat ein, in einen Kittel von grobem, braunem Wollstoff gehüllt, der ihm bis zu den Füßen reichte, einen Shawl nachlässig um den Hals geschlungen. Als ob ich den Zwillingsbruder von Sophie Wyß sähe! Dieselbe Haltung mit krummem Rücken, einwärts gebogenen Knieen, gebogenen und etwas nach innen gedrehten Armen, dasselbe freundliche Grinsen in dem stupiden Gesichte mit den dicken, beständig geifernden Lippen, den vorgewulsteten Augenbrauenbogen, hervorstehenden Backenknochen und der zurückweichenden niedrigen Stirn, über welcher damals ganz kurz geschnittene, struppige Haare den kaum faustgroßen Schädel deckten. Freund Richard Seel aus Elberfeld, der vielbewährte Meister, der später, mit vieler Mühe freilich, ein wunderbar gelungenes, lebensgroßes Portrait von Emil fertigte, dessen verkleinerte Nachbildung ich hier gebe, hat vielleicht etwas zu viel geistigen Ausdruck in diese Augen gelegt, die uns gutmüthig anstierten, jeder unserer Bewegungen hastig folgten und Fragen an uns zu stellen schienen, welche die Intelligenz des Wesens doch nicht zu formuliren im Stande war. Willig reichte er dem Einen und Andern die Hand, ließ sich mit Behagen an dem Kopfe krauen, betasten, messen. Es war leicht, zu constatiren, daß der knöcherne Schädel, die Gehirnkapsel, noch weit kleiner sei, als der Kopf auf den ersten Blick erschien, denn die Kopfhaut zeigte sich beim Betasten bedeutend verdickt, hie und da selbst wulstig, so daß sie den Raum zwischen den vortretenden Augenbrauen und dem Stirnknochen vollständig ausfüllte und ebnete, während in der That die knöcherne Stirn einen tiefen Eindruck bietet.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_204.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)