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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 20.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Vetter Gabriel.
Von Paul Heyse.
(Fortsetzung.)


Dergleichen war Gabriel nichts Neues. Er hatte sich früh gewöhnen müssen, das schöne Mädchen von den ausgesuchtesten Huldigungen umringt zu sehen, und hätte Jeden, der in ihrer Nähe gleichgültig geblieben wäre, für einen armseligen Stockfisch gehalten. Aber damals, im heimlich ihm zugesicherten Alleinbesitz, wie er glaubte, dieses vielbegehrten Kleinods, schmeichelte es ihm nur, zu beobachten, wie Andere, minder Glückliche ihre Mühe verschwendeten. Heute zum ersten Mal war es ihm eine unerträgliche Qual, da er sie für immer verloren zu haben dachte. Nicht gegen den jungen Fremden wendete sich sein Groll. Der oder irgend ein Anderer, das war ihm vollkommen gleichgültig. Aber sie, die doch fühlen mußte, wie ihm zu Muthe war nach allen gegenseitigen Eröffnungen, wie konnte sie das Herz und die Stirn haben, in seiner Gegenwart zu klimpern und zu lachen, wie wenn sie selbst nicht das Geringste dabei empfunden hätte, als sie ihn so tief zu Boden schmetterte! Dieses Lachen, das war noch ganz dasselbe, vor dessen schadenfrohem Uebermuth er sich den Morgen nach dem Ball gefürchtet hatte. Nichts war inzwischen geändert, nur eine noch vollendetere Weltdame aus ihr geworden, die drittehalb Jahre lang kaltblütig an die Stunde gedacht hatte, in der sie das getreueste Herz mit einem Tritt ihres kleinen Fußes in den Staub treten könnte!

Wie er so saß und von Minute zu Minute Grimm und Gram in seiner Brust wachsen fühlte, faßte er den Entschluß, nie wieder diese Schwelle zu betreten. Die Einsicht, die vorher in ihm aufgegangen war, daß man wohl Ursache habe, sich auch über ihn zu beklagen, ging völlig unter in dem Gefühl der bittersten kaltherzigsten Vergeltung, die man an ihm geübt. „Gut denn!“ sagte er für sich; „wenn wir denn quitt sind, wollen wir uns nicht ferner lästig fallen. Wieder anfangen mit einander, wieder Vetter und Bäschen spielen, nur damit Einer mehr sei, den Hofstaat der jungen Hoheit zu completiren – dazu sind wir denn doch zu gut! Und wenn ich gefehlt und mich selbst betrogen habe – war ich nicht bereit, Alles wieder gut zu machen, mich auf Gnade und Ungnade lebenslänglich ihr auszuliefern? Und was ist der Bescheid? Eine Chanson, so kalt und seelenlos, wie des guten Lori Sprüchlein. Nicht doch, zum Verzweifeln und Vergrämen ist das Leben zu kostbar. Machen wir hier ein Ende und fangen in frischer Luft von Frischem an!“

Er benutzte die nächste Pause im Gesang, um sich dem Flügel zu nähern, seinem Bäschen, die plötzlich erblassend zu ihm aufsah, die Fingerspitzen zu bieten und mit dem ungezwungensten Ton, den er zu erschwingen vermochte, sich bis auf Weiteres von ihr zu beurlauben. Auf die hastige Frage, ob sie den Eltern für morgen seinen Besuch ankündigen solle, erwiderte er achselzuckend, er wisse nicht, ob er Zeit finden werde, verneigte sich gegen den Franzosen und verließ den Saal.

Draußen vor der Thür mußte er einen Augenblick still stehen, das Herz schlug ihm bis in die Fußspitzen hinunter. Es war plötzlich Alles um ihn her stumm und dunkel geworden, der Kopf brannte ihm, er strich sich mit der eiskalten Hand über die Stirn und seufzte tief auf. Hinter sich glaubte er den Franzosen lachen zu hören, und jetzt gar das Bäschen. Aber nein, das war eine Täuschung. Er hörte nur ihre Stimme, die aber riß ihn aus seiner Erstarrung auf. Er wollte kein Wort von ihr erlauschen; was sie ihm gesagt hatte, war gering und übergenug. So stieg er mit schwankenden Schritten die Treppe hinab, die er so voll Freuden hinaufgeflogen war. Eben zündete ein Bedienter unten den Gascandelaber an. Er erkannte den tiefsinnig herabsteigenden jungen Herrn nicht, so wenig wie der Portier. Es waren neue Gesichter, denen der Vetter fremd war. „Alles ist neu und fremd geworden in diesem Hause,“ dachte er bei sich selbst; „das Wohlbekannteste am fremdesten. Was widerstände auch der Macht der Zeit? Es soll freilich Mancherlei geben, was selbst zwei Jahre und sieben Monate überdauert, z. B. Liebe und Treue, aber wenn es dergleichen giebt, in diesem Hause wenigstens sucht man es vergebens. Ha nun, um so besser! Man muß sich nur danach einrichten. Und wenn ich’s recht bedenke: ist es denn in mir noch vorhanden? Wie ich diese Treppe hinaufstieg, dachte ich nicht, ich könne ohne dieses Mädchen nicht leben? Und jetzt lebe ich doch noch und befinde mich sogar ganz wohl dabei, in der That, noch wohler, als vorher. Es drückt und engt mich nichts mehr hier auf der Brust; mir ist so frei und leicht, wie seit Jahren nicht! Ich Narr! Ich hätt’ es längst so gut haben können, wenn ich mir nicht eingebildet hätte, ich sei es ihr schuldig, ein schweres Herz um sie zu haben. Nun will ich mich wohl hüten, je wieder in diese Kinderkrankheit zu verfallen!“

In diesen ingrimmig resoluten Gedanken schritt er die Straße hinunter, ohne den Kopf nur einmal umzuwenden nach dem Balcon, den er bei seinem Kommen so fröhlich begrüßt hatte. Ein schöner, eleganter Wagen rollte ihm entgegen, er erkannte von fern die Livrée des Oheims und trat in den Schatten eines Thorwegs, um ihn erst vorbeizulassen. Auf dem offenen Rücksitz saßen die Eltern, wenig verändert, seit er sie nicht gesehen, der Vater mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_305.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2021)