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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Der Teufel.
(Fortsetzung.)


„Franziska war krank geworden,“ fuhr der kleine Bucklige fort; „eigentlich krank nicht, sie hatte ein starkes Schnupfenfieber, oder ein Zahngeschwür, oder wie ähnliche prosaische Indispositionen heißen, die den Menschen an Stube und Bett fesseln, ohne ihm herzhaft oder gefährlich zuzusetzen, die man aber gleichwohl Krankheiten nennt. Zu diesem Zustande erhält sie eines Tages ein anonymes Billet, in welchem ihr mitgetheilt wird, der Lieutenant Hille habe seit einigen Tagen Besuch von einer jungen fremden Person mit einem Kinde von etwa einem Jahre. Er sei über die plötzliche Ankunft der Fremden in hohem Grade erschreckt, könne sich ihrer aber nicht entledigen und habe sie heimlich in einem obscuren Gasthofe, zum Bären, glaube ich, einquartiert, wo er sie nur des Abends heimlich in Civilkleidern besuche.

Franziska gerieth außer sich und wurde wirklich ernsthaft krank. Sie phantasirte mehrere Tage in heftigem Fieber. Als sie wieder zu klarem Bewußtsein kam, sah sie sonderbar theilnehmende Gesichter um sich.

‚Muß ich denn sterben?‘ fragte sie.

‚Nein, nein, Du Theure. Der Arzt hat Dich im Gegentheil außer aller Gefahr erklärt. In drei Tagen kannst Du wieder aufstehen, in acht Tagen ausgehen.‘

‚Aber was ist es denn, was Ihr habt?‘

Sie sagten es ihr nicht, sondern sie wandten verlegen die Gesichter ab. Sie ahnte, was es war, denn woran man selbst immer und immer wieder denken muß, das glaubt man auch in den Augen Anderer zu lesen. Aber auch sie konnten es nicht sagen.

Eine Mutter hatte sie nicht mehr. Sie war die älteste der Geschwister, ihre jüngere Schwester ein Kind von vierzehn Jahren. Das Kind hatte vorher nicht die Vertraute ihres Herzens sein können; sie durfte es auch jetzt nicht dazu machen, wenngleich sie sah, daß auch das Kind etwas wußte. Der Vater war kalter Geschäftsmann und niemals der Vertraute der Tochter gewesen. Franziska hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihm ihr geheimes Verhältniß zu dem Lieutenant zu entdecken, ihn um seine Einwilligung zu der Verbindung zu bitten. Er hatte sie widerwillig gegeben; er liebte die Officiere überhaupt nicht, die armen bürgerlichen erst recht nicht. So hatte er zur Bedingung seiner Einwilligung gemacht, daß das Verhältniß nach wie vor geheim bleibe, der Lieutenant Hille eben so wenig wie früher in das Haus komme, kurz, äußerlich Alles bleibe, wie es war, bis der Lieutenant Rittmeister werde. Vater und Tochter hatten seitdem einander noch ferner gestanden.

Eine alte Tante war noch im Hause und stand seit dem Tode der Mutter dem Haushalte vor. Sie war gutmüthig, aber der Adelstolz in der Familie; sie haßte daher den Lieutenant Hille, seitdem sie wußte, daß er der Verlobte ihrer Nichte war. Franziska mit ihrer Geburt, ihrer Schönheit, ihrem Geiste mußte künftig eine höhere Stellung im Leben einnehmen, als die Frau eines Gensd’armerierittmeisters in einer kleinen Stadt zu werden. Das Fräulein kannte die Avancementsgrundsätze in der Armee. Das Verhältniß zwischen Franziska zu Vater und Tante war fast ein gespanntes geworden, als mein alter Freund, der Regierungsrath von Römer, in das Haus gekommen, der Anbeter Franziska’s geworden, von ihr kalt und launisch und höhnisch aus der Thür gewiesen, aus dem Hause geworfen worden war und doch in seiner zärtlichen und treuen Liebe, oder, wie man es auch übersetzen kann, in seiner selbstsüchtigen und herrschsüchtigen, zuletzt geradezu rachsüchtig gewordenen Leidenschaft immer und immer wieder kam und zu ihren Füßen schmachtete.

So hatte Franziska im Hause Niemanden, dem sie sich entdecken und mittheilen durfte. Sie genas, wie der Arzt es gesagt hatte, allein sie konnte das Bett nicht verlassen. Sie magerte täglich mehr zum Skelet ab und fühlte sich täglich matter. Der Arzt schüttelte den Kopf, da doch die Krankheit beseitigt war. Tante Leonore spionirte, fand das zerknitterte, vielleicht hundert Mal von der Kranken gelesene anonyme Billet und sprach darüber mit dem Arzt.

‚Die Ungewißheit würde sie tödten; sie muß Alles wissen,‘ entschied der Arzt.

Die Tante sprach mit Franziska offen und ehrlich.

‚Franziska, während Du gestern schliefst, habe ich das Zettelchen gelesen, welches Du unter Deinem Kopfkissen hältst.‘

In das schneeweiße Gesicht Franziska’s ergoß sich die dunkelste Röthe.

‚Es ist leider Alles wahr,‘ fuhr die Tante fort. ‚Die Person ist noch da mit dem Kinde. Der Lieutenant Hille geht noch jeden Abend heimlich zu ihr. Es ist ein Scandal. Die ganze Stadt spricht davon. Wir durften es Dir lange nicht sagen, Du armes Kind. Aber endlich –‘

Die Tante wollte trösten. Franziska unterbrach sie.

‚Ich danke Dir, liebe Tante. Verlaß mich jetzt; ich muß allein sein.‘

Sie sprach es bittend, aber in einer entschlossenen Weise, der nicht zu widerstehen war. Die Tante ließ sie allein und horchte draußen an der Thür. Sie hörte ein unterdrücktes Weinen, das in seiner Heftigkeit plötzlich gewaltsam und laut durchbrach. Zu der Tante hatte sich die jüngere Schwester Emma gesellt.

‚Sie weiß Alles?‘ fragte das Kind.

‚Was wußtest Du denn?‘

Das Kind antwortete nicht. Das Herz wollte ihm bersten, denn es liebte die ältere Schwester. Es stürzte zu der Kranken.

‚Du arme, arme Franziska! Es ist Alles wahr.‘

‚Was weißt Du denn?‘ fragte auch Franziska, aber in welch’ einem anderen Tone!

‚Sie sprechen schon in der Schule davon,‘ sagte das Kind.

‚Erzähle mir, was sie in der Schule sprechen.‘

Emma erzählte. Es war dasselbe, was in dem Billet stand und was die Tante mitgetheilt hatte. Das Kind wußte nur noch Einzelnheiten. Als sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, hatte Franziska ihre Thränen getrocknet.

‚Verlaß mich,‘ bat sie auch das Kind.

Als man Franziska nach einer Stunde wiedersah, war eine auffallende Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie war ruhig, klar, entschieden; ihr Auge blickte hell, ihre Züge hatten jeden Ausdruck von Schmerz verloren. Sie mußte einen ebenso entscheidenden, wie starken und festen Entschluß gefaßt haben.

Am nächsten Tage konnte sie das Bett verlassen, am zweiten in das Gärtchen hinter dem Hause in die warme, milde, stärkende Frühlingsluft hinaustreten, in den Duft des Flieders und der Rosen. Und Frühlingsluft und Frühlingsduft stärkten sie von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Am fünften Tage fragte sie den Arzt, ob sie schon in die Abendluft gehen dürfe.

‚Wenn Sie sich in Acht nehmen.‘

‚Ich werde es.‘

Als es Abend geworden war, nahm sie den Arm der Schwester.

‚Gehen wir in die Vorstadt zum Bären.‘

Sie gingen hin. Der Gasthof zum Bären lag an der Landstraße, die durch die Vorstadt lief. Ihm zur Seite war ein großer Garten; in denselben führte ein in der dichten Hecke halb verstecktes Pförtchen, zu dem man durch einen sich zwischen Gärten hinziehenden schmalen Weg gelangte. Auf diesem Abends menschenleeren Pfade gingen die beiden Schwestern zu dem Pförtchen.

‚Vor halb neun Uhr kommt er nicht?‘ fragte Franziska die jüngere Schwester.

‚Niemals früher.‘

Auf den Thürmen der Stadt schlug es acht, als sie durch das Pförtchen in den Garten traten. Es war ein großer Obst- und Gemüsegarten und es befanden sich mehrere Lauben darin; eine von ihnen lag dicht an einer Seitenhecke, Franziska zeigte nach ihr.

‚Dort soll sie sein?‘

‚Dort kommen sie jeden Abend zusammen.‘

Sie gingen zu der Laube. Sie mußten leise und vorsichtig gehen, denn der Mond schien hell. Aber zu der Laube führte ein dunkler Gang, den auf der einen Seite die hohe, dichte Gartenhecke, auf der anderen Spaliere von Aepfel- und Birnbäumen einfaßten. Sie kamen in die Nähe der Laube, es war still darin, doch auf ihrer anderen Seite bewegte sich ein langsamer Schritt hin und her.

‚Dort ist sie,‘ flüsterte die jüngere Schwester, ‚sie wartet auf ihn.‘

Der Schritt kam näher und schien um die Laube herumkommen zu wollen. Die beiden Schwestern drückten sich in die Hecke, denn hinter der Laube her kam Jemand zum Vorschein; es war eine Frauensperson in ländlicher Tracht. Der Mond beschien sie hell.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_494.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)