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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

unwahrscheinliche Dorfschöne, da. Das große, farbige Brusttuch, die kurzen Aermel, die leinene Schürze standen ihr seltsam drollig zu Gesicht. Karl war aufgesprungen und starrte sie an; sie blickte in der liebenswürdigsten Heiterkeit zu ihm herüber. Ihre Lippen waren wieder frisch und roth, ihre Wangen blühten. Sie drückte einen mächtigen ländlichen Strohhut auf den Kopf; darüber brachen die Kinder in neues Jubeln aus, hingen sich rechts und links an ihre Schürze und gaben ihr die lustigsten Schmeichelnamen, während sie mit herzlicher Liebe und Holdseligkeit auf die kleinen Schelme herabsah.

Karl schritt auf sie zu und wollte eben ihre Hand ergreifen – ohne zu wissen, warum – als auch Demoiselle Merling aus der Thür hervortrat und zugleich ein kleiner, einspänniger Wagen von der Stallung heranfuhr, um vor dem Hause zu halten. „Bemühen Sie sich nicht weiter, lieber Charles,“ sagte sie mit ihrem süßesten Lächeln, „und haben Sie schönen Dank, daß Sie uns das böse Mädchen da so weit wieder gerettet haben. Wir fahren heim, wie Sie sehen. Ich habe sofort beim Eintreten einen Wagen bestellt. Es ist leider nur Platz für Zwei, es wäre schöner gewesen, wenn wir den Lebensretter hätten mitnehmen können. Aber Sie machen sich ja nichts aus weiten Wegen zu Fuß. Leben Sie wohl, lieber Charles. Steigen Sie ein, mon enfant, steigen Sie ein. Helfen Sie mir ein wenig, lieber Charles. Ich danke Ihnen so. Und nun fahren Sie zu, Kutscher, was die Pferde nur laufen wollen.“

Karl stand überrascht. Er hatte in der Verwirrung noch ein mal Annettens Hand ergriffen, drückte sie lebhaft und glaubte ihren Gegendruck zu fühlen; aber dann riß die Alte, wie durch eine zufällige Bewegung, den Arm des Mädchens zurück, und die ungeduldigen Pferde zogen an. Ein letzter Blick aus Annettens sanften Augen flog zu dem Jüngling zurück, und ihre ganze Seele schien ihn daraus anzustrahlen. Beglückt und verstört zugleich stand er und sah ihr nach. Der Wagen rollte zum Gehöft hinaus, eine leichte Staubwolke schwebte hinter ihm auf, und durch diesen grauen Schleier hindurch glaubte er noch den boshaft triumphirenden Blick der Alten zu erkennen.




3.

Unterdessen war Wilhelm, seit er sich auf dem Marktplatz vom Bruder getrennt hatte, mit seinen hastigen Schritten durch die Straßen geraunt; er sprach vor sich hin, er sang, er nahm seinen Hut in die Hand und irrte durch die Sommerluft der Gassen umher, ohne zu wissen, wohin seine Füße ihn führten. Endlich blieb er stehen und dachte, was für ein Thor er gewesen sei, das Zimmer seiner Tante Merling zu verlassen; er sah sich wieder auf seinem Platz, neben Annette, – und plötzlich kehrte er um, zu dem kleinen schmalen, hochstirnigen Eckhaus am Marktplatze zurück. Er trat auf den Flur und horchte, um Annettens liebliche Stimme drinnen zu hören. Aber Alles war still. Er klopfte und fand die Thür verschlossen, er zog an der Hausthürglocke, das Dienstmädchen erschien und sagte ihm, daß die Demoiselle spazieren gegangen sei. Es war ihm unmöglich, so wieder von dannen zu gehen. Er ließ sich aufschließen und trat in das Zimmer hinein, um auf dem Stuhl, auf dem vorhin Annettens kleine Gestalt geruht hatte, niederzusitzen. Ihr unfertiger Strickstrumpf war auf der Tischdecke liegen geblieben; mit Zärtlichkeit nahm er ihn in die Hand, dachte sich die zierlichen Finger hinzu, die ihn so weit gebracht hatten, und starrte ihn sehnsüchtig an, wie wenn sich ihre ganze Seele in diese Maschen verstrickt hätte. Endlich trieb ihn seine Unruhe wieder davon. Es drängte ihn, der Tante Merling ein Zeichen seines Zustandes zurückzulassen. Auf dem Clavier fand er einen weißen Briefbogen, er theilte ihn in seine beiden Hälften und hing das eine Blatt unter sein Bild, nachdem er darauf die Worte geschrieben hatte: „Ist sehr verliebt.“ Dann nahm er die andere Hälfte, schrieb mit übergroßen Buchstaben: „Ich komme wieder!“ auf dieses Blatt, stellte es aufrecht gegen das Erbauungsbuch und legte Annettens Strickstrumpf davor, um es vor dem Fallen zu schützen. Hierauf drückte er der Magd, die mit sehr verwunderten Mundwinkeln wieder in die Thür getreten war, zum Abschied die Hand, rief sein getreues Windspiel, das ihn auf dem Flur erwartet hatte, und eilte hinaus, um von Neuem seine Irrfahrt durch die Straßen, am Hafen, auf den Stadtwällen zu beginnen.

Es war dunkle Nacht geworden, als er nach Hause kam; nun endlich hoffte er den Bruder wiederzufinden, nach dem er sich herzlich sehnte. Sein Geheimniß, sein inzwischen glühend heiß gewordener Entschluß brannte ihm auf der Zunge; es trieb ihn, wie es ihn noch nie getrieben hatte, in Karl’s Herz seine überladene Seele auszuschütten. Indessen die Wohnung war leer. Statt des Bruders fand er auf seinem Tisch einen Brief. Er ließ sich vom Bedienten die Kerzen bringen, öffnete ihn und las:

„Liebster Wilhelm! Die Nacht ist so schön, ich wandere zu Fuß hinaus. Ich bitte, schicke mir morgen den Wagen nach und sei inzwischen, wie immer, guter Dinge. Ich habe hier in der Stadt keine Ruhe mehr; der Mond geht eben auf, und es wandert sich im Mondlicht so gut, wie im Sonnenschein. Mir ist, als müßt’ ich mich einmal austoben! Gute Nacht, gute Nacht! Zu wenigen Tagen, Liebster, sehen wir uns wieder.“

Wilhelm starrte eine Weile in den Zettel hinein, dann auf den Himmel hinaus, wo der Mond schon aus der Höhe in sein Fenster herabsah. Er dachte in seiner Unruhe einen Augenblick, ob er dem Bruder nachlaufen, seinem Beispiel folgen, ihn einholen sollte; dann belehrte ihn wieder das hohe Gestirn, daß es ohne Zweifel zu spät sei, und sehr beklommen warf er sich in die Sophaecke und fühlte sich traurig allein. Er sprach laut vor sich hin, um nur eine Stimme zu hören. Er redete den Flüchtling an, warf ihm mit herzlichen Scheltworten vor, daß er so ein Pflichteiferer sei, sich zur ungeschicktesten Zeit davonzustehlen. Wie eine sichtbare Frage schwebte es ihm vor den Augen, was er nun thun solle. Es däuchte ihn ganz unmöglich, sich nicht schon jetzt zu entscheiden. Wenn er nur an Annette dachte, so erschien es ihm wie eine Pflicht, dieses Mädchen zu heirathen. Sie allein auf der Welt, und sogleich! Es konnte ihm ein Anderer zuvorkommen – schon morgen – noch heute! Bei diesem Gedanken sprang er wie gemartert in die Höhe und hastete mit großen Schritten im Zimmer umher, riß alle Fenster auf, um die Beklemmung, die ihn umdunstete, hinauszulassen. „Er kann nicht anderer Meinung sein, als ich,“ sagte er, auf- und niedergehend, vor sich hin. „Er kann diese Wahl nicht mißbilligen, er kann’s nicht! In diesem Mädchen ist Alles! Wie Tante Merling sie lobt! Wie ihr Liebe und Güte aus den Augen sehen! Ach, und Karl als ihr Schwager – wie wird ihm wohl sein, so eine Schwester zu haben; er hat sie ja gern. Ich hab’s ihm ja angesehen! Er hat keine Leidenschaft für sie, wie ich, aber mit brüderlichem Herzen, wie es seine Art ist, wird er sie lieb haben.

Und dann wir Drei miteinander – bis auch er das Mädchen findet, das ihn so toll macht, wie mich! Wenn er je so eins findet,“ dachte er und blieb stehen, „wenn es je Eine geben wird, die ihn nicht kühl laßt, an der sein kluger Geist nichts zu tadeln findet – Doch, doch, so Eine wird es geben!“ sagte er laut mit ermuthigender Stimme und sah in den Nachthimmel wie in die Zukunft hinaus. „Auch er wird einmal heiß werden, wird alle Sinne verlieren – und dann leben wir Vier wie die Engel im Himmel.“

Bei diesem rosigsten Gedanken stand seine Seele still; es that ihm unendlich wohl, ihn sich fort und fort vor Augen zu halten, die letzten Zweifel hinter ihm zu verbergen. So verbrachte er den Rest des Abends und einen Theil der Nacht. Endlich entkleidete er sich, halb im Traum, suchte sein Bett auf und war, indem er im Geist noch einmal Karl’s Hände drückte, plötzlich entschlafen.

Am andern Morgen stand die Sonne schon hoch, als er aus dem tiefsten Schlaf erwachte und aufstand. Er rief sich seine Entschlüsse von gestern zurück, mit einem Gefühl, wie wenn er sich des Bruders Einwilligung herangedacht hätte; Alles schien ihm so klar, so sonnenhell; er kleidete sich an, warf sich in seinen schönsten Sammetrock, nahm seinen zierlichsten und reichsten Busenstreif und wanderte hinaus, dem Eckhaus am Marktplatz zu. Die Sonne schien auch heute, wie gestern, aus der Bläue herab. In den Straßen war es so warm, die kühle Morgenfrische schon aufgesogen, die vorübergehenden Gesichter glänzten in der Sonne. Ihm war so wohl, wie wenn er zum schönsten Fest seines Lebens ginge. Er hatte endlich die Thür in der Hand, zu der es ihn zog, und öffnete ohne zu klopfen, – und Demoiselle Merling, die an ihrem Nähtisch saß, blickte ihn verwundert an und fuhr in die Höhe.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_499.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)