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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Dich?“ fragte sie mit halber Stimme. Wilhelm hatte das Blatt zusammengedrückt und stand mit dem Ausdruck der Enttäuschung da. „Er kommt nicht heut’, sondern morgen,“ sagte er verstört. „Er ist angelangt – aber es eilt ihm nicht, Annette, uns schon heute zu sehen. Er hat Geschäfte. Er ist – weise, wie immer.“

„So muß man sich gedulden,“ sagte Annette mit freundlicher Ruhe und fühlte, wie ihr selber das Herz die Brust bedrängte.

„Geduld!“ wiederholte Wilhelm. „Ich hatte mich so sehr auf diesen Abend gefreut! Aber Du wirst blasser, Annette,“ setzte er hinzu, „die Sonne geht unter – Du erkältest Dich. Du sitzest hier schon zu lange. Ich bitte Dich, geh’ hinein.“

„Ich erkälte mich nicht,“ erwiderte sie mit leisem Kopfschütteln. Aber sie sah seine ungeduldigen, fordernden Augen und stand fügsam auf. Mit stummem Gesicht ging sie an ihm vorbei, zur Thür hinein. Ihre leichten Schritte verhallten sogleich im Hause.

Wilhelm blickte ihr nach. Er lehnte sich wieder gegen den Baum, und der erste Zug aufrichtigen Kummers ging über sein Gesicht. Er hatte sein Taschenmesser gezogen, schnitt damit gedankenlos in die Rinde, und seufzte still vor sich hin. „Es ist Alles vergebens!“ seufzte er. „So geht es nun Tag für Tag. Sie ist so still – doch sie verwelkt. Sie ist so sanft, so ergeben, aber kann das mich glücklich machen? In ihrem Blut ist kein Leben; sie freut sich über nichts so aus vollem Herzen; – sie ist so anders, als ich! – Und wenn ein Mensch auf Erden wüßte, was ihr fehlt!“

Er sah wieder auf das Blatt, das er noch in der Hand hatte, die hastige Schrift Karl’s fiel ihm in die Augen, er empfand, wie unruhig, wie ungeduldig ihn nach diesem Bruder verlangte, daß er nicht ohne ihn leben könne; daß er so ganz Sehnsucht sei, ihm wieder seine Liebe zu beweisen. Er hat’s verwunden, dachte er voll Zuversicht; er hat sie vergessen! Er schrieb ja schon so ruhige, so behagliche Briefe. Wie scherzhaft hat er nicht von den Pariserinnen geschrieben – wie heiter und unterhaltend! Vielleicht, daß er schon eine Andere im Sinn hat; vielleicht nahm ich es damals überhaupt zu schwer. Und wenn Einer es verwinden kann, kann er’s verwinden! – Er hielt sich diese Hoffnungen recht lebhaft vor Augen und fühlte, wie dabei seine Sehnsucht wuchs. Er blickte nach dem Thor, als müßte er ihn doch noch heute kommen sehen, trat dann vor Ungeduld fast schwermüthig in’s Haus und zerknitterte den Brief in seinen Händen.

Indessen war er kaum hinter der Thür verschwunden, als auf dem Hofraum, von der Landstraße her, ein Wanderer auftauchte, den Wilhelm trotz seiner fremdartigen Tracht auf den ersten Blick erkannt hätte. Zu grauen Reisekleidern, einen ausländischen, sehr bestaubten Hut auf dem Kopf, auch die Stulpenstiefeln mit Staub überdeckt, kam Karl eben durch das Hofthor eilig herangeschritten. Er verrieth in Allem, auch in seinem arg verwilderten Haar, daß er sich noch nicht die Zeit genommen hatte, an sich selber zu denken. Mit lebhaften Augen spähte er vor sich her, als fürchtete er zu früh entdeckt zu werden. Sein Windspiel sprang ihm mit einem kurzen Bellen entgegen; er drohte ihm, daß es schweigen solle, sah unruhig nach den Scheunen und Ställen, nach den Fenstern unter den Kastanien, die sich im Schatten versteckten. Endlich trat er in den dämmerigen, gewölbten Hausflur, ohne erkannt zu sein.

An der Thür zur Linken stand er still; blickte die großen Schränke, die tiefen Nischen des Vorplatzes, die Gespielen seiner Kinderjahre, mit der Empfindung eines Heimkehrenden an, suchte durch die weiß verhängten Glasscheiben links in das Gemach hineinzublicken. Doch in dem überdämmerten Raum war nichts zu erkennen. In diesem Raum hatte er so lange Jahre verlebt; hier hatte seine Mutter Tag für Tag an ihrem Arbeitstischchen, und er als Kind zu ihren Füßen gesessen; – und nun stand er an derselben hohen Fensterthür, um da drinnen Annette als Herrin des Hauses zu begrüßen. Er fühlte, wie der Gedanke ihm den Athem versetzte, aber dennoch lächelte er furchtlos vor sich hin. Ich werde sie wiedersehen, dachte er; mußt’ es nicht einmal sein? Und wenn das erste thörichte, schaudernde Bangen überwunden ist, – wird es mich nicht abkühlen, sie als die zufriedene Frau meines Bruders zu wissen? Bin ich nicht auf Alles gefaßt, hab’ ich mich nicht auf Alles vorbereitet?

Er stand noch und zögerte hineinzugehen, als drinnen ein Lichtschein auftauchte und, wie er nun erkannte, aus dem Nebenzimmer eine Magd mit zwei brennenden Kerzen erschien. Sie bewegte sich dunkel durch den erhellten Raum, stellte die Kerzen auf den Tisch neben dem Sopha, und jetzt entdeckte der Lauscher dort am Tisch Annettens Gestalt. Sie saß, wie es schien, von ihm abgewandt; ihr zierlicher Umriß verschwamm vor seinen Augen, so sehr dämpfte der weiße Fenstervorhang das Licht. In diesem Augenblick fiel ihm ein, wie seltsam ähnlich das Schicksal sie ihm am ersten Abend gezeigt und verhüllt hatte. So saß sie damals hinter dem Clavier, dachte er, nur ihre Stirn hatte sich mir flüchtig wie ein fallender Stern gezeigt; und wie war ich geschäftig, mir die noch geheimnißvolle Gestalt nach meinen Wünschen zu denken! Wie stellte ich mir die tiefsinnigen, beredten Augen, den schwermüthigen Mund, die ganze räthselvolle, bezaubernde Seele vor! Und dann – Ach, sie war reizend, doch wie anders, wie anders! Ein liebliches Kind, mit einem lachenden Herzen, für einen ganz Andern geboren, als für mich; - aber mich blendeten noch immer meine ersten phantasirenden Gedanken! Und wenn ich nun diese Thür hier öffne und der kleinen, freundlichen Gestalt gegenübertrete, so werd’ ich sie endlich sehen, wie sie ist, wie sie war, – und diese ewigen Qualen, die ich draußen mit mir herumtrug, werden mir vor der beruhigenden Wirklichkeit vom Herzen fallen! – Warum fürcht’ ich mich noch? redete er sich zu, da ihm das Herz doch heftig klopfte, und drückte auf die Thür, um ein Ende zu machen. Er öffnete und sah nun auf einmal Wilhelm sich gegenüberstehen, den er bisher durch das Fenster nicht bemerkt hatte. Der Bruder mochte ein Geräusch vernommen haben. Seine Arme breiteten sich hastig aus, sowie er den Eintretenden erblickte, und mit einem lauten Ausruf schloß er ihn an die Brust.

„Bist Du da! bist Du da!“ rief er ein Mal über das andere mit halb erstickender Stimme. „Verräther! Uns überraschen! Und den Brief vorausschicken! Diese Teufelskünste!“ Er küßte ihn auf die Backen, drückte ihn von sich und starrte ihm mit zärtlichster Neugierde in’s Gesicht. „Es ist noch der Alte,“ rief er aus; „nur das Haar sehr vernachlässigt – ist das die neueste Mode in Paris, Karl, so zu verwildern? Und da an den Schläfen – was ist das? Die braunen Haare silbergrau geworden? Fängst Du schon so früh an, – oder ist das auch der neueste republikanische Styl? – Karl, Karl!“ rief er in plötzlicher Bewegung aus und umschlang ihn von Neuem mit seinen Armen; „wie haben wir’s nur so lange ausgehalten, uns nicht zu sehen? Wie konnten wir nur – Jetzt mach’ Dir’s bequem, mein Liebster, leg’ ab, setze Dich – oder nein, Du mußt ja erst die neue Hausfrau begrüßen! – Ich will nur gleich in den Keller,“ setzte er hinzu und suchte mit den Augen heiter zu lachen; „Du kennst diese Frau ja schon, ich brauche Dir nicht zu sagen, wer sie ist – unterdessen hol’ ich den Wein!“ damit drehte er sich weg und schwankte eilig hinaus, und Karl stand Annetten gegenüber.

Sie hatte sich in ihrem hellen Sommerkleid vom Sopha erhoben und reichte ihm die Hand. „Seien Sie uns willkommen,“ sagte sie leise. Der erste Schreck der Ueberraschung hatte ihre gefärbten Wangen wieder verlassen, und sie stand in ihrer stetigen Blässe da. Ihre großen, erregten Augen strebten ihn recht gelassen anzusehen, sie ließ ihre Hand ruhig in der seinem „Es ist schön von Ihnen, daß Sie kommen,“ setzte sie hinzu. „Sie machen Wilhelm sehr glücklich. Er war so ungeduldig, so außer sich, daß Sie uns noch bis morgen wollten warten lassen! Wie viel werden Sie uns zu erzählen haben!“ fuhr sie nach einer Weile etwas befangener fort, da er noch immer schwieg, ihre Hand hielt und sie großäugig anstarrte. „Warum stehen Sie noch? warum setzen Sie sich nicht? Sie werden – Sie werden müde sein, Karl. Sie scheinen mich nicht mehr zu kennen,“ sagte sie endlich und gab sich Mühe, zu lächeln, „denn Sie betrachten mich, wie wenn Sie eine ganz neue und unerwartete Erscheinung entdeckten.“

„Verzeihen Sie,“ erwiderte er, ließ sie schnell aus den Augen und fuhr sich über die Stirn. „Es war – – es war nichts. Aber dieser Anblick – –“ Er brach ab, und lief erschüttert starrte er sie wieder an. Sie war nicht das weiche, zierliche, glücklich lächelnde Kind, das er wiederzufinden erwartet hatte. Um ihre Lippen hatte sich ein schwermüthiger Ernst gelagert, ihre geheimnisvollen, tiefen, beseelten Augen, ihre vergeistigten Züge erschreckten ihn. Sie war wie um Jahre gereift, – wie in das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_547.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)