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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Bild, das er sich damals von ihr schuf, hineingewachsen. Die sanfte Schüchternheit hatte sich in stille, schmerzliche Entschlossenheit, der harmlose Mädchenblick in tiefes, gedankenvolles Schweigen verwandelt. Der nachdenkliche, gespannte Zug zwischen den dunklen Brauen war der Stirn noch tiefer eingedrückt und schien von bitterlichen Kämpfen, von frühen Leiden zu sprechen. Im Innersten ergriffen, wandte Karl sich mit einer plötzlichen Bewegung von ihr ab, ganz unfähig zu reden. Alle seine Fassung war dahin. Er nahm einen Stuhl, aber statt sich zu setzen, umklammerte er dessen Lehne mit den Händen, stierte auf die Blumen, die in das Polster gestickt waren, und, ohne ein Glied zu bewegen, stand er da und schwieg.

„Sie haben sich auch verändert, Karl,“ stammelte Annette nach einer langen Pause, wie wenn sie etwas von seinen Gedanken errathen hätte. „Sie haben in dem hastigen Paris wohl auch zu hastig gelebt!“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber verharrte in seinem Schweigen. „Verzeihen Sie, daß ich das sage,“ fing sie wieder an, „da ich doch wohl nichts davon verstehe. Aber es wird Ihnen gut thun, denk’ ich mir, wieder in der Heimath und auf dem Lande zu leben. Wie Wilhelm sich darauf freut, das kann ich Ihnen nicht sagen! Und ich, lieber Schwager,“ und sie trat auf ihn zu und suchte ihre unsichere Stimme zu beherrschen, „und ich freue mich auch. Die Tage werden nun etwas lebendiger werden, wir werden Vieles mitgenießen, was Sie genossen haben. Und,“ fuhr sie fort, indem sie den Kopf senkte, „ich werde mir nicht mehr sagen müssen, daß ich Ihr Zusammenleben gestört habe – daß ich schuld bin – – Nein, Sie werden nun da bleiben, hoff’ ich. Sie werden da bleiben und Wilhelm ganz zum glücklichen Menschen machen.“

„Nein, Annette,“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht.“

„Warum nicht?“ fragte sie und sah ihm erschrocken in die finsteren Augen.

Er ließ die Stuhllehne fahren, und indem er vor sie hintrat, antwortete er: „Ich will es Ihnen sagen, Annette. Weil ich hier zu Grunde ginge. Weil – weil ich Sie liebe.“

Annette erschrak in den Tod und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihre Hände lagen ihr im Schooß, sie saß regungslos da, wie wenn sie irgend eine Elementargewalt über sich hereinströmen ließe. „O mein Gott!“ seufzte sie endlich.

Karl stand, die Hände an: Tisch, die Augen auf die Schleife an ihrer Brust geheftet, und fuhr fort: „Sie begreifen nun, Annette, daß ich hier zu Lande nicht bleiben kann, und Sie werden mich nicht mehr darum bitten! Ich war ein Narr, daß ich kam. Ich bildete mir ein, daß ich Alles verwunden hätte. Es war ein Wahnsinn, nichts weiter. Ich weiß nun wenigstens die Wahrheit!“ setzte er mit wilder Zufriedenheit hinzu, „ich kann diese Narrheit nicht zum zweiten Male begehen. Was ist Ihnen, Annette? Warum verstört Sie das so? Ich habe Sie damals belogen, als ich Ihnen den Brief schrieb, ich will Sie nicht mehr belügen – will wahr gegen Sie sein. Schweigen und Lügen rettet nicht, – fort muß ich, fort! Morgen – morgen denk’ ich darüber nach, wohin. Wilhelm wird kommen –“ und er horchte nach der Thür – „machen Sie ihn glücklich, Annette; seien Sie glücklich und überlassen Sie mich meinem – denkwürdigen Schicksal.“

Er starrte mit düsterer Entschlossenheit zu ihr hinüber und machte eine Bewegung, wie um zu gehen, aber nun sah er erst die ganze trostlose Verzweiflung in ihren Zügen, und in der heftigsten Ueberraschung stand er still. Sie schwieg noch immer, doch ihre Thränen fingen an zu fließen. Ein Blick flog zu ihm hin, aus Allem gemischt, was ihre aufgelöste Seele bewegte. „Annette!“ sagte er, von einer plötzlichen gramvollen Seligkeit erfüllt, und sah und horchte bang nach der Thür, „o Annette, Annette!“ Sie stand auf, sie legte sich die Hände vor die Augen und suchte ihm ihr überströmtes, verrätherisches Gesicht zu verbergen. „Sie sind nicht glücklich, Annette!“ stammelte er.

Auf einmal sah sie ihn an, und mit dem bittersten Lächeln, über das die langen Thränen hinwegflossen, sagte sie: „Warum verwundert Sie das? Warum sollte ich glücklich sein? Warum sagen Sie mir erst heute, daß Sie mich lieben?“

(Schluß folgt.)




Der Reformator der Erziehungslehre.

Von Gustav Steinacker.

Der 9. December 1755[WS 1] brachte, wie an vielen Orten, so auch in der lateinischen Schule der guten Stadt Zürich eine ungeheuere Aufregung hervor. Es war Nachmittags zwischen zwei und drei Uhr; der Lehrer gerade im besten Zuge, seinen neun- bis zehnjährigen Rangen die lateinischen Declinationen einzubläuen, als plötzlich ein gelber Schein sich über die kleinen runden Fensterscheiben verbreitete und eine ungewohnte Erschütterung zu verspüren war. „Ein Erdbeben!“ rief der Lehrer, und die zum Tode erschreckten Knaben rannten mit bleichen Gesichtern von ihren Plätzen hinweg die Treppe hinab auf den Schulhof. Die meisten liefen, unbekümmert um ihre Bücher, Mappen und Mützen, eiligst heim.

Unter den noch Zurückbleibenden befand sich auch der damals kaum zehnjährige Heinrich Pestalozzi. In allen Knabenspielen der unbehülflichste unter sämmtlichen seiner Mitschüler, wollte er, der voll blinden Vertrauens allen Menschen und auch sich selbst stets mehr zutraute, als er sollte, dabei doch auf gewisse Weise immer mehr sein als die andern, die ihn zwar um seiner Gutmüthigkeit und Dienstbeflissenheit willen liebten, aber doch auch oft ihr Gespött mit ihm trieben, wobei ihm einer seiner Mitschüler einmal den hochtönenden Beinamen „Heiri Wunderli von Thorliken“ beigelegt hatte.

„Ach, liebster Heiri!“ riefen jetzt Einige, „hol’ uns doch unsere Mappen herab!“ Und „nicht wahr, Pestaluzz’,“ rief ein Dritter und Vierter, „auch meine Sachen bringst Du mir mit? Ich traue mich vor Angst nicht hinauf, die Treppe möchte einstürzen.“ „Dir, Wunderli,“ meinte der Zaghaften einer, der selbst in der allgemeinen Angst seine Spöttereien nicht lassen konnte, „Dir stößt gewiß nichts zu, Du bist ja immer der Held, der etwas vor uns voraus haben will.“ – Und der gutmüthige, gefällige Heiri unternahm wirklich das Wagstück und kam, mit den Büchern, Mappen und Mützen der Genossen beladen, glücklich wieder auf dem Schulhof an. „Dank’ Dir, Brüderchen!“ erscholl es von allen Seiten.

Ein neuer Erdstoß erfolgte. An eine Fortsetzung der Schulstunden war unter diesen Umständen nicht zu denken, und auch unser Heinrich Wunderlich lief heim nach dem Rüdenplatze, wo seine Mutter, die arme Wundarztswittwe, mit ihren drei unerzogenen Kindern wohnte, denen der fünf Jahre früher gestorbene Vater, der als geschickter Augenarzt in Ansehen gestanden, nur ein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Als er fühlte, daß sein Ende nahe war, hatte er das gute Babeli vor sein Todtenbett gerufen, welches er schon in den wenigen Monaten, seit es vom Dorfe weg in sein Haus getreten war, als ein Dienstmädchen von seltener Treue und Tüchtigkeit erprobt hatte. „Babeli,“ sprach er zu ihr, „um Gottes Erbarmen willen, verlaß meine Frau nicht, wenn ich todt bin! Ohne Deinen Beistand ist sie nicht im Stande, meine Kinder bei einander zu halten, und sie kommen in harte, fremde Hände.“ Da sprach Babeli gerührt: „Ich verlasse Ihre Frau nicht, wenn Sie sterben, ich bleibe bei ihr bis in den Tod, wenn sie mich nöthig hat.“ Der sterbende Vater war beruhigt; mit diesem Trost im Herzen verschied er.

Unser Heinrich, am 12. Januar 1746 zu Zürich geboren, war von der Wiege an zart und schwächlich und wuchs so in sehr beschränkten Verhältnissen an der Hand der besten liebevollsten Mutter und unter der Hut des treuen Babeli, das emsig sparen half, als ein rechtes Muttersöhnchen auf, wie er später selber bekannte. Fehlte dem zarten, träumerischen Knaben, dessen Geistes- und Gemüthsanlagen sich frühe entfalteten, die dem Kindesalter so nothwendige Kraftbildung, so war die durchaus liebevolle weibliche Leitung, die er in der Wohnstube der Mutter genoß, wohl geeignet, um jene Besonderheit seiner Natur einseitig zu nähren,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. Liste von Erdbeben in der Schweiz; Vorlage: 19. December 1755
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_548.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)