Seite:Die Gartenlaube (1868) 744.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Bruder unterstützt, so daß ein Duett entsteht, welches durch den Zutritt eines anderen Sohnes, der vielleicht schon auf der Universität ist und als sonorer Bariton spricht, zum Trio erhoben wird. Endlich reden Vater und Mutter auch wieder drein und es giebt ein lebendiges Tutti, welches anfangs darstellt, wie man sich über die Witterung von allen Seiten abdisputirt, zuletzt aber auch, wie man sich verständigt, den Ausflug nach Alpbach oder Brandenberg gleichwohl beschließt und sich plaudernd und schäkernd auf den Weg macht. Derlei oder andere Sachen lassen sich bei diesen vielsagenden Glockentönen allerdings denken, allein Mancher, der seinen gesunden Schlaf zu schätzen weiß, wird sich gleichwohl ärgern, daß er aufgeweckt worden, und christlicher wäre es jedenfalls, den müden Menschen in Frieden schlummern zu lassen, bis die Zeit seiner Thätigkeit gekommen, als ihm lange vor Tagesanbruch mit siebenfachem Glockenschall zu melden, daß nichts passirt, vielmehr noch alles finster sei und daß er sich immerhin noch einige Stunden auf’s Ohr legen könne.

Das arme Land Tirol hat überhaupt einen ungemeinen Reichthum an schönen Glocken. Selbst in den kleinsten Dörfern hört man oft ein Geläute, wie es anderswo kaum der Herr Stadtpfarrer erklingen lassen kann. Wohlthäter und Wohlthäterinnen sorgen überdies durch Schenkungen und Vermächtnisse, durch freiwillige Sammlungen für jeden Schmuck der Kirche. Stets wird an neuen Fahnen, an neuen Meßgewändern gestickt, die alten Bilder werden durch neue ersetzt, die vergilbten Altäre wieder frisch bemalt und neu vergoldet, zuweilen mit schweren Kosten ein heiliger Leib verschrieben – auf Büheln und Bergen entstehen neue Einsiedeleien, Capellen und Kirchen, die man fast für überflüssig halten möchte, weil deren im Thal schon zu viele sind. Diese rege Sorge für die Kirche läßt aber wenig Theilnahme für die Schule aufkommen, und es war jedenfalls ein schlimmes Seitenstück zu dem Glanz des Cultus, daß es in Tirol vor nicht so langer Zeit noch Schullehrer gab, welche jährlich sechszig Gulden einnahmen und ihre mageren Küchel mit Leinöl backen mußten.

Es ist jetzt sieben Uhr des Morgens und ein wunderschöner Tag. Unter der Altane rauscht der Mühlbach dahin; die Aepfelbäume des Dorfes paradiren mit ihren goldenen Früchten; da und dort schlendert ein schmauchender Jüngling, ein feiertäglich prangendes Mädchen durch die Gassen. Rechts auf der Höhe steht die Dorfkirche im stillen Friedhofe und streckt den rothen Spitzthurm sehnsüchtig in die Luft; die rothen Kuppeln, die das „Herrenhaus“ zieren, zeugen von der einstigen Bedeutung dieses Baues, der jetzt zum Gasthof geworden, früher aber ein adeliger „Ansitz“ gewesen ist. Ueber dem freundlichen Dörfchen mit seinen raschen Bächen, seinen steinbeschwerten Dächern, unter denen die Kürbisse und die gelben Maiskolben trocknen, seinen Büschen und Bäumen erheben sich die wilden Hörner verschiedenen Namens, der waldige Brandenberg, das kahle Sonnwendjoch, die nackten Spitzen des Vomperjoches. Jenseits des Baches aber in nächster Nähe zeigt sich die lange, mächtige Hütte, in welcher das Passionsspiel vor sich gehen soll. Den Giebel zieren einige Flaggen und der rothe tirolische Adler. Unter diesem hängt ein Laubkranz mit der Inschrift: Willkommen! Die Cassirer haben sich bereits auf ihren Amtssitz begeben, denn vorsichtige Leute treten wohl jetzt schon ein, um sich einen guten Platz zu sichern. Auch die Hökerinnen setzen ihre Tische zurecht, decken ihre Obstkörbe auf oder legen Würstchen, Krapfen, Trauben und andere beliebte Näschereien zum Verkaufe aus. Allmählich stellen sich am rauschenden Bach verschiedene Häuflein beiderlei Geschlechts im Sonntagsstaat zusammen, um die Hütte, die Landschaft und sich selbst zu betrachten.

Ferner fahren zahlreiche Rollwagen aus dem Zillerthal und anderer Nachbarschaft knallend herein und bringen viel zierliche Jugend, viel würdiges Alter mit. Auch der Extrazug, der von Bozen und Innsbruck kommt, rollt in den Bahnhof und wirft unzähliges Volk aus, das sich in dichtem Gedränge durch das Dorf nach der Spielhütte wälzt.

Nachgerade ist es neun Uhr geworden und krachende Böller verkünden den Anfang des Stücks. Dort drinnen spielen sie zum Willkomm bereits die Ouvertüre zur Stummen von Portici, über deren Zusammenhang mit dem bittern Leiden und Sterben unseres lieben Heilandes sich mancher städtische Grübler den Kopf zerbricht. Auch „die schönsten Augen“, welche gleich darauf folgen, scheinen eher geeignet, die Stimmung für ein Schäferspiel vorzubereiten, als für den Kreuzestod auf Golgatha. Glückliches Landvolk, das über solche Zweifel weit hinaus ist und mit ungestörtem Behagen sich von den weichen Klängen ergötzen läßt!

Endlich haben wir Platz genommen und betrachten uns zunächst den Vorhang. Dieser stellt das Dorf Brixlegg mit seiner Kirche, dem Herrenhause und andern namhaften Gebäuden, den, Hüttenwerken dem Bahnhof und zwei dampfenden Zügen, sowie die gesammte Berglandschaft wahrheitsgetreu vor Augen. Ist es auch nicht Rottmann’s Pinsel, so würden wir doch, wenn wir Kunstkritiker wären, dem Vorhang eine milde Beurtheilung nicht versagen können, da ihn Anton Windhager, damals Gehülfe im nahen Bade Mähren, umsonst gemalt hat. Ob die inneren Decorationen, mit denen wir im Laufe des Stücks bekannt werden, ihm an Kunstfertigkeit vor- oder nachstehen, wollen wir auch nicht untersuchen – genug, daß Herr Franz Staudacher, der Tischlermeister und Maler zu Rattenberg, der sie gefertigt, ein sehr braver Mann ist.

Die Hütte faßt gegen dreitausend Zuschauer und war dieses Mal nahezu gefüllt. Auf dem ersten Platze zeigte sich heute wenig Vornehmheit, dagegen erschienen viele wohlhabende Bauern, Müller und Wirthe mit den gutgenährten und reichgeschmückten Gattinnen. Hinter diesen, auf den wohlfeileren Bänken, sitzt der mindere, aber gleich biedere Landmann von Tirol mit Weib und Kindern. Doch mischen sich auch einige Zuzügler und Pilgerinnen aus dem bairischen Gebirge ein, wie aus den niederen Spitzhüten mit den goldenen Schnüren und Quasten leicht zu ersehen. Der Hitze wegen hatten viele Männer ihre Röcke ausgezogen und sahen dem Spiele in bloßen, doch reinlichen Hemdärmeln zu.

Den Inhalt dürfen wir wohl bei allen guten Christen als bekannt voraussetzen; daher nur einige Mittheilungen über die Art der Darstellung. Diese ist der Hauptsache nach dieselbe, wie bei dem Passionsspiel, welches alle Jahrzehnte zu Ammergau im bairischen Gebirge abgehalten wird. Das Stück zerfällt darnach in zwei gesonderte Bestandtheile, in die symbolischen Vorgänge aus dem alten Testamente, welche als prophetische Vorzeichen der Leidensgeschichte in lebenden Bildern oder Pantomimen dargestellt werden, und in die Ereignisse der Leidensgeschichte selbst. So oft ein lebendes Bild erscheinen soll, treten fünfzehn Genien, lauter Mädchen von sechs bis achtzehn Jahren, vor den niedergelassenen inneren Vorhang und eine der älteren giebt die Erklärung der kommenden Darstellung. Hierauf entfernen sich die Genien, der Vorhang rollt auf, das lebende Bild wird bei griechischem Feuer sichtbar und unten fällt Gesang mit Instrumentalbegleitung ein. Nach einer kleinen Weile sinkt der Vorhang, erhebt sich wieder und es zieht dann ein Stück der Leidensgeschichte mit Bewegung und Rede an uns vorüber, um später wieder einem lebenden Bilde Raum zu geben.

Diese Einrichtung ist zwar altherkömmlich, allein es wäre vielleicht doch besser gewesen, sie zu beseitigen. Einmal ist die Symbolik mitunter sehr gesucht, denn es gehört fast übermenschliche Combinationsgabe dazu, um in dem Backenstreiche, welcher dem Propheten Micha zu Theil wurde, weil er dem König Achab die Wahrheit sagte (I. Kön. 22, V. 24.), ein Vorbild jenes späteren zu sehen, welchen Jesus vor dem Hohenpriester Annas erhielt. Ebenso fraglich wird es Vielen vorkommen, ob sich Judas mit Beziehung auf den treulosen Ahitophel erhängt hat, welch’ letzterer viele Jahrhunderte vorher (nach II. Sam. 17, V. 23.) jene Todesart ebenfalls wählte, weil sein Rath nicht befolgt worden war. Diese Bilder wären an und für sich gar nicht zu verstehen, und es kommt dem Beschauer daher ein billiges Passionsbüchlein zu Hülfe, welches Vorbild und Handlung nach der Reihenfolge angiebt, allein auch so setzt die Bekanntschaft mit Micha, Achab, Ahitophel und andern jüdischen Celebritäten des alten Testaments eine Bibelfestigkeit voraus, wie sie bei dem Tiroler Landmann nicht gesucht werden darf und vielleicht auch nicht gern gefunden werden möchte. Die Auferstehung Christi wurde in den ersten Vorstellungen durch einen Walfisch und den Propheten Jonas symbolisirt, deren ersterer letzteren „gesund an das Land setzte“.

Beide miteinander, und zwar der Prophet trotz oder vielleicht wegen seiner Gesundheit, erregten aber jedesmal ein so heiteres Gelächter, daß man später dieses Vorbild ganz entfallen ließ.

Wenn man aber die lebenden Bilder einmal zulassen wollte, so müßte man, meine ich, dem Ammergauer Theater auch die

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_744.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)