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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

baierische Herzogsfamilie um eine fabelhafte Summe (sämmtliche Klostergebäude sammt mehreren Dörfern, Höfen, Feldern, Wiesen und großen Waldungen um 309,000 Gulden!) durch Kauf an sich. Seitdem erfüllte neuer Glanz die alten Prachträume. Sechs Jahre vor meinem heutigen Einzug mit Gustav von Heeringen hatte ich als ungeladener Gast allen Feierlichkeiten der Vermählung des jungen Herzogs Max mit seinem Bäschen Ludovica, der Tochter des Königs Maximilian des Ersten, beigewohnt; die Hofcapelle von Koburg war für Kirchen-, Tafel- und Concert-Musik dazu befohlen, und ich trug als meines Vaters kluger Sohn ihm die Posaune nach und dadurch zu all diesen Herrlichkeiten wesentlich bei. – Zehn Jahre nach dem heutigen Tage stand ich wieder vor diesem Thor. Da kam mir ein halbes Dutzend Kinderchen entgegen, von Gouvernanten und Hofmeistern geführt und von Bedienten begleitet. „Das sind dem Max Seine“ erhielt ich auf meine Frage von einem Wegmacher zur Antwort. Zwei Knaben dabei und ein Wickelkind; das lieblichste Bild gewährten zwei Mädchen, von etwa sieben und drei Jahren, die sich an den Händchen führten und mit köstlichen Augen die ganze Welt und mich auch anlachten. Du lieber Gott! Jetzt ist die größere schon fünfzehn Jahre Kaiserin von Oesterreich, und wie viel hat die kleine schon, als unglückliche Königin von Neapel, einsame Thränen vergossen!

Heeringen schrieb damals an seinen „Fränkischen Bildern“, und deshalb war er auch mit mir nach Banz gewandelt; es verlangte ihn besonders wieder einmal nach dem Rundblick von der Glockenstube der Kirchthurme aus. Ein eisgraues Männchen stellte sich als Führer vor. „Nein, alter Vater,“ sprach Heeringen, ihm einige Geldstücke in die Hand drückend, „Ihr sollt nicht mit da hinaufsteigen! Ich kenne ja die Treppe genau. Seht, am Trinkgeld schadet Euch’s nicht, wenn Ihr hier am sonnigwarmen Portal so lange ausruht, bis wir wieder herunterkommen.“ –

„Das geht schon net, gnädiger Herr!“ erwiderte der Alte mit einem Aufblick, der die Verletzung einer Amtswürde spüren ließ.– „Der gnädige Herr wissen’s ja, daß ich der alt’ Glöckner bin, und der gehört zu seinen Glocken, wenn Gäst’ zu ihnen kommen. Das Gestell thut’s auch noch, trotz seiner Sechsundsiebenzig.“ Damit stieg er, sein Führerrecht in jeder Beziehung wahrend, zum Thurm hinauf voran; ganz verständig hielt er, so oft ihm das Athmen unbequem wurde, und vergütete uns und namentlich Heeringen die verlorene Zeit mit allerlei für diesen nutzbaren Bemerkungen aus seinem Klosterleben. Ich darf mich hier nicht in dieselben vertiefen, wie verlockend es auch ist, sonst kommen wir in unserer Geschichte eher rück- als vorwärts. Endlich standen wir unter den Glocken. Heeringen eilte gleich zu den Schalllöchern, den hohen Thurmfenstern, um die verschlossenen Holzläden aufzureißen und die Blicke in’s Mainthal hinunter und auf die fränkischen Berge hinüber zu jagen; ich half ihm, und der Alte ließ uns stillschweigend gewähren. Unsere Schwärmerei über „die schöne Aussicht“ schien ihn nicht zu berühren, und Heeringen, der fränkische Ortskundige, bedurfte seiner hier nicht.

Als wir uns endlich dem Innern der Glockenstube wieder zuwandten, standen wir Beide betroffen vor dem Anblick, der sich uns darbot. Der Alte lag hingelehnt an der größten der zu unterst hängenden Glocken; mit der Rechten hielt er sich an der Krone fest, den linken Arm schlang er um das kalte Erz und preßte das Haupt darauf, ganz als galt es hier ein Wiedersehen oder Scheiden vom liebsten auf der Welt.

„Alter Vater, ist Euch nicht wohl?“ rief Heeringen und trat besorgt zu ihm. Dieser aber ließ die Rechte von der Glockenkrone los und stand wieder aufrecht da. Er war tief erregt, sein Auge feucht, wie nach bestandenem oder vor nahendem innern Sturm. Ich habe nie einen solchen Alten wieder gesehen, bei dem man über dem Anschauen des Gesichts alle nebensächliche Äußerlichkeit, wie Kleidung und dergleichen, rein vergaß.

„Sehen Sie, gnädiger Herr“ – er wandte sich immer nur an meinen vornehmen Gefährten, dessen Stand und Stellung er wohl kannte, während an meinem Außenmenschen seinem erfahrenen Auge der arme Teufel schwerlich lange verborgen geblieben war – „hier stehe ich wie auf der Schädelstätte meiner Kinder. Was ich in diesen Glockenstuben, dahier und drüben im andern Thurm, erlebt habe, das schreit zu Gott in alle Ewigkeit. Es sind über dreißig Jahr’ seitdem hingegangen, ich war ein starker Mann, als sie’s hier vollbrachten, Alles ist an mir alt und mürb’ geworden, nur das Herzeleid, gnädiger Herr, das ist so stark geblieben, wie’s Sie haben mit dem Kopf geschüttelt, gnädiger Herr, wie’s zuerst war. Sie halten mich für einen alten Faseler. Aber schauen Sie sich doch um in der hohen Glockenstube, ist’s denn da, wie es sein soll?“

Jetzt erst sahen wir nach dem mächtigen Gebälke empor und fanden allerdings manchen leeren Glockenstuhl. Heeringen bemerkte dies dem Alten, der aber schlug die Hände zusammen und rief aus:

„Herrgott Jesus Maria und Joseph, das ist’s ja! Gnädiger Herr, Sie sind ein lutherischer, aber Glocken haben Sie doch wenigstens auch und wissen, was ein richtiges Geläute besagen will. Nun fragen Sie im ganzen Maingrund auf und ab die Aeltesten, Alle wissen’s: ein Geläute, wie das vom Kloster Banz, ist nicht wieder gehört worden von hier bis Rom. Und ich bin der Glöckner gewesen. Wer aber kein Glöckner gewesen ist, der versteht’s nicht, wie Einem die Glocken an’s Herz wachsen und wie man eine immer lieber haben kann wie die andere. Dort oben hat meine Sancta Cäcilia gehangen, das war meine Ave-Maria-Glocke, die hatte eine so rührende Stimme in Es, daß mir beim Läuten oft das Beten in die Hände kam. Und da ist der leere Stuhl der Sancta Maria mit ihrer vollen reinen Stimme in C, nach der sehnte ich mich, wenn ich sie eine Zeitlang nicht gehört hatte. Und gar dort meine Sancta Anna –“

„Aber, lieber Alter, wohin sind denn all die schönen Glocken gekommen?“ unterbrach ihn Heeringen.

„Wohin?“ – rief er und in seine Augen trat ein fürchterlicher Ingrimm. „Als sie der Klosterherrlichkeit ein Ende machten, da sind die Herren gekommen von München und von Bamberg und haben aufgeladen, was ihnen wohlgefiel, von den Gemälden und aus den andern Sammlungen und von den Büchern, und was ihnen an Büchern nicht gefiel, ist fuderweis verkauft worden. Ich sah das Alles von dem Thurm da mit an und heulte. Endlich kamen sie auch da herauf mit ihren Packknechten, und weil sie die schweren Glocken nicht so leicht hinabschaffen und aufladen konnten, so holten sie Schmiede mit ihren schwersten Hämmern herbei und die schlugen meine Glocken in Stücke, eine um die andere; vergeblich lag ich vor ihnen auf den Knieen und schrie wie ein Vater, dem man die Kinder hinschlachtet – alles vergeblich, ein Stück um’s andere flog hinab in den Hof – nur diese eine blieb verschont, sie ist noch meine einzige liebe Klosterglocke.“

Er legte die Hand auf sie und streichelte sie wie ein geliebtes Wesen, während er auf die anderen Glocken einen geringschätzenden Blick warf: „Die dort sind später erst wieder neu angeschaffte, und wie Stiefkinder wachsen sie nicht mehr an’s Herz. Ja ja, gnädiger Herr, ich komme nicht oft mehr herauf, aber allemal verlebe ich da wieder eine schwere Stunde, – und das Alles und das ganze Unglück des Klosters ist das göttliche Strafgericht für den Pater Roman –“

„Pater Roman?“ – fragte Heeringen –„ist das nicht der Doctor Johann Baptist Schad?“

„Ja, derselbige ist’s, so hieß er vom Vaterhaus aus. Er ist von Mürsbach im Itzgrund gebürtig. Wir sind von gleichem Alter und zwanzig Jahre sind wir zusammen in diesem Kloster gewesen. Wie hat mein Herz an dem Menschen gehangen! Denn er war zu Anfang der Frömmsten Einer in der Zucht und Buße. Und doch ist der Satan Herr über ihn geworden durch die“ – er bekreuzigte sich – „verdammten Bücher“. Wie oft hat er sich mit seinen Büchern da herauf verkrochen und im Sinniren Alles vergessen, bis er ertappt wurde und zur Strafe den Hundetisch mit Wasser und Brod bekam. Ich hab’s wohl gemerkt: zehn Jahre lang hat er gerungen mit dem Teufel, bis er sich ihm ergeben hat, denn von der Höh’ herunter, wo der Pater Roman in stockfinstrer Nacht aus dem Kloster entsprungen ist, hätt’ Jeder den Hals gebrochen. Den hat der Teufel heruntergetragen –“

„Haltet ein, Alter!“ rief da Heeringen, den der Gegenstand offenbar tief ergriff. „Kommt, zeigt uns die Stelle, wo der Pater entsprang.“

Während wir treppab stiegen, sprach er leise zu mir: „Das, ist ein denkwürdiges Stück Menschenleben, das des Paters, und wahrlich das des Glöckners auch. Kennen Sie die Geschichte des Paters Roman?“

Ich mußte es verneinen.

„Desto besser,“ sagte er, „ich will sie Ihnen nachher am geeignetsten Ort dazu, auf der großen Terrasse, erzählen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_008.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)