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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 10.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Der Mond war aufgegangen; die volle Scheibe schwebte über der Schlucht; ihr weißes Licht troff auf die schwarzen Tannen und Kiefern, welche die fast senkrechten, gleichsam auseinandergerissenen Bergwände umstarrte, und tanzte auf den trüben, schäumenden Wassern. Das Flußbett war bis an den Rand gefüllt; schon sprühte hie und da der Gischt über die Wiesen hin – noch wenige erhöhte Pulsschläge droben in den Bergen, und die Fluthen überströmten das Thalgelände.

Weiter unten, in der Nähe eines tiefliegenden Weilers, kamen Leute. Die Männer und Frauen trugen Bettstücken und verschiedenes Geräth auf den Köpfen, und die Kinder trieben ein Paar Ziegen vor sich her.

„’S wird schlimm diese Nacht – das Wasser kommt!“ sagte einer der Männer zu dem Hüttenmeister. Die Leute flüchteten in einige höher gelegene Häuser.

Dieser Zuruf rüttelte den Hüttenmeister plötzlich aus seinem Hinbrüten auf. Er schritt rascher den Fluß entlang – seine sämmtlichen in Neuenfeld wohnenden Arbeiter waren in Gefahr.

Und nun sah er auch, was die tückischen Wasser bereits auf ihrem Rücken trugen - eine Thür schwamm heran, und unter das vorüberjagende Scheitholz mischten sich Häuserbalken und losgerissene Bretter. … Das schwoll und gurgelte und hätte noch lange nicht genug an der Noth und dem Jammer, die es bereits mit sich schleppte.

Und darüber schwebte das Mondlicht, so süß und golden, so erbarmungslos weiterlächelnd, wie die zwei dunklen Mädchenaugen drüben im weißen Schlosse, nachdem sie in den Abgrund geblickt, der sich über einem zertretenen Menschenherzen schloß.

Auf dem Neuenfelder Kirchthurm schlug es neun. Die zwei Wandernden waren über vier Stunden umhergeirrt und näherten sich der Jochbrücke – der Student war ermattet zum Umsinken. … Da tauchte plötzlich am jenseitigen Ufer Sievert auf. Er hob die Arme wie abwehrend und rief mit lauter Stimme hinüber, aber das Toben und Brausen des nahen Wehres verschlang die Laute. Während der Hüttenmeister stehen blieb und aufmerksam dem erneuten Zuruf lauschte, betrat der Student ungeduldig die Brücke und schritt vorwärts.

Ein Aufschreien des alten Soldaten gellte herüber – er geberdete sich wie ein Unsinniger und schlug die Arme um das Brückengeländer – in demselben Augenblick erscholl ein dumpfes Krachen – ein langer Balken fuhr gegen die Brückenpfähle, sie sanken sofort – mit Gedankenschnelle wuschen und wühlten die Wasser das morsche Gerüst auseinander, und unter dem grausen Gemisch treibender Balken und Bretter verschwand die Gestalt des Studenten.

Der Hüttenmeister sprang ihm ohne Weiteres nach. Der durch die Krankheit entnervte junge Mensch war rettungslos verloren gegenüber dem fortreißenden Wasserschwall. … Selbst der riesenstarke Mann rang keuchend mit den Fluthen – zweimal streckte er vergeblich die Hand nach dem Verunglückten aus – immer näher und unwiderstehlicher wurden Beide nach dem Wehre hingetrieben. Endlich gelang es dem Hüttenmeister, den treibenden Körper zu erfassen; aber nun kam das Furchtbare – der Student war nicht des Bewußtseins, wohl aber für einen Moment aller Vernunft beraubt – er erkannte seinen Retter nicht, er schlug nach ihm und wehrte sich gegen die rettende Hand verzweifelter, als gegen die tückischen Fluthen. … Trotz dieses entsetzlichen Kampfes kam der Hüttenmeister dem jenseitigen Ufer näher und näher – mit dem letzten Kraftaufwand schwang er den Studenten uferwärts, Sievert ergriff dessen Arme und zog ihn auf das Trockene.

Hier gerade war das Flußbett sehr tief; das Ufer überragte noch um drei Fuß Höhe die Wasserfläche. … Die letzte gewaltige Bewegung, mittels welcher der Hüttenmeister seinen Bruder an das Land geschleudert hatte, trieb ihn selbst sofort in die Mitte des Flusses zurück. … Noch einmal begann der Kampf, und zwar um das eigene Leben – aber – war ihm dieser Preis nicht mehr begehrenswerth genug, oder hatten ihn die Kräfte in der That verlassen, der junge Mann verschwand plötzlich. Sievert rannte am Ufer hin und rief in verzweiflungsvollen Tönen den Namen des Versinkenden – da erhob sich noch einmal das todtenbleiche Gesicht hoch aus den Wassern – der alte Soldat schwur sein Lebenlang, er habe in diesem Augenblick den Hüttenmeister noch lächeln sehen – noch einmal streckten sich die Arme wie zum Gruß empor – „leb’ wohl, Berthold!“ scholl es herüber. … Gleich darauf trieben Bretter über dieselbe Stelle, wo so viel Jugend und Schönheit und ein braves deutsches Herz versunken waren. … Der alte Soldat starrte mit gesträubtem Haar hinüber – dicht am Wehr tauchte noch einmal der dunkle Arm auf – dann stürzte der Schwall donnernd hinab in die Tiefe. …



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_145.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)