Seite:Die Gartenlaube (1869) 201.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

nur nach zeitweiligem Bedürfniß beschäftigt werden. Der wöchentliche Lohn des ständigen Arbeiters beläuft sich auf zehn Schilling sechs Pence, der des zufälligen für den Tag auf zwei Schilling sechs Pence im Sommer, auf zwei Schilling vier Pence im Winter; durchschnittlich für die Woche, wenn man die arbeitslosen Tage in Anschlag bringt, auf fünf Schilling. Die Totalsumme der zeitweilig gemietheten Arbeiter wechselt zwischen fünfhundert bis dreitausend und auch darüber, je nachdem mehr oder weniger Schiffe einlaufen, deren Zahl in der Woche unter dreißig sinken und über einhundertfünfzig steigen kann. Dieses Fallen und Steigen hängt von den Ostwinden ab, welche die Schiffe zurückhalten, und so kommt es, daß Hunderte und Tausende derer, die nur zufällig verwendet werden, sich durch ein Umschlagen des Windes ihres täglichen Brodes beraubt sehen und mit ihnen oft ihre sehr zahlreichen Familien.

Hier an den Docks ist der Kampf um das Dasein fast täglich um halbacht Morgens zu sehen. An den Haupteingang drängen sich die verschiedensten Gestalten in den buntesten und seltsamsten Aufzügen, um den Männern, die für die Arbeit miethen, sich zuerst sichtbar zu machen. Durch Schreien, Händeaufheben, durch Springen auf den Rücken eines Andern sucht jeder ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und an sich als einen alten Bekannten zu erinnern. Tausende drängen und raufen sich hier um Arbeit, damit sie nur einen Tag leben können. Aber sehr oft müssen die Meisten abziehen, ohne ihre Absicht zu erreichen. Die verhungerten Gesichter dieses Haufens zu sehen ist ein Anblick, den man nie mehr vergessen kann. Wochenlang sind viele vergeblich hieher gekommen, und von Tag zu Tag stieg mit der Noth ihre Verzweiflung, denn nicht blos für sich allein, auch für die zu Hause befindliche Familie gilt es die Rettung vom Hungertod. Es kam vor, daß mancher sechs Wochen lang vergeblich Arbeit suchte und sich von den zufälligen Brodbrocken, die ihm Docksarbeiter zuwarfen, nähren mußte. Um vier Uhr Nachmittags, nach achtstündiger Arbeit, die so hart ist, daß man sich wundern muß, wie sich täglich Tausende für den geringen Lohn herandrängen können, wird bezahlt. In einer halben Stunde ist dies abgethan. Bevor man aber die Arbeiter aus den Docks hinausläßt, werden sie noch ausgesucht, ob sie sich nicht widerrechtlich etwas angeeignet hätten. Die größten Reichthümer liegen in den Docks, und die ärmsten Menschen arbeiten in denselben, und doch ist es statistisch erwiesen, daß unter ihnen monatlich kaum[WS 1] achtmal ein Diebstahl und jährlich kaum dreißigmal Trunkenheit vorkommt, obwohl alle Arten von Getränken massenhaft hier aufgespeichert sind.

An dem Thore der Docks sitzt eine Art von Restaurant, der geringe und schlechte Nahrung verkauft, während die harte Arbeit doch die beste erfordern würde. Einige der Arbeiter nehmen nur um einen Penny oder einige Pence, andere verzehren im quälenden Heißhunger ihre ganze Einnahme und zwar mancher schon im Voraus auf Borg, so daß, wenn sie sich den ganzen Tag todtmüde und wieder hungrig gearbeitet haben, sie das eingekommene Geld für die bereits genossene Nahrung hingeben müssen und für die Nacht gewöhnlich nicht mehr die drei Pence besitzen, um in einem Lodging house (Logirhause) Aufnahme zu finden. Dann bleibt ihnen nichts übrig, als unter einer Brücke, auf dem schmutzigen Stroh eines Marktes, auf den Stufen eines öffentlichen Gebäudes oder auf der Bank eines Parks zu übernachten. Bemerkenswerth dürfte noch sein, daß dieser Restaurant fast nie betrogen oder bestohlen wird.

In London befinden sich aber sechs Docks und alle beschäftigen eine größere oder geringere Anzahl von Menschen, so daß man zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter dafür annehmen darf, wovon jedoch nur drei- bis viertausend permanent sind. Dazu kommen dann noch alle diejenigen, welche an den Werften zu thun oder überhaupt für die Schiffe zu arbeiten haben, die zusammen wohl mehr als dreißigtausend Köpfe ausmachen und die nun alle bei widrigen Winden, welche oft vierzehn Tage bis drei Wochen anhalten, mehr oder minder mit ihren Familien außer Verdienst gesetzt sind, so daß sich dann die Noth auf Hunderttausende erstreckt. Werden aber die Winde wieder günstig, dann laufen oft fünf- bis achthundert Schiffe auf einmal ein, und nun zieht die große und dringende Nachfrage nach Arbeitern, da jeder Eigenthümer seine Waaren so schnell als möglich an’s Land gebracht wissen will, aus der Nachbarschaft Londons ganze Schaaren von Menschen herbei, die nach kurzer Zeit wieder beschäftigungslos sind und dann den Vagabundismus und das Elend in der Hauptstadt vermehren helfen. Das Leben dieser Leute ist auf diese Weise auf den Zufall gestellt, eine Regelmäßigkeit in demselben wird durch die Unregelmäßigkeit der Einnahme zur Unmöglichkeit gemacht, und so geschieht es, daß sich dieser Classe der Bevölkerung der größte Leichtsinn bemächtigt. Sobald ein Genuß möglich ist, wird er bis auf die Neige ausgebeutet, um das unter einem unabwendbaren schrecklichen Verhängniß gedrückte und verzweiflungsvolle Bewußtsein zu betäuben. Es erweist sich statistisch, daß gerade in den Jahren der Noth die Consumtion des Branntweins steigt. Ueberhaupt ist der Verbrauch von Bier und spirituösen Getränken im vereinigten Königreich Großbritannien ungeheuer. Im Jahre 1843 betrug die dadurch erzielte Einnahme einige Millionen Pfund mehr, als die gesammten Staatseinnahmen, nämlich etwa fünfundsechszig Millionen Pfund, das ist siebenhundertundachtzig Millionen Gulden.

Bei dem großen Nothstand einer so zahlreichen Menge der Bevölkerung ist es wohl begreiflich, wie in London eine ganze Armee von gefährlichem Gesindel sich zusammenhäufen muß. Das äußerste Elend treibt wie mit Naturnothwendigkeit zum Laster und Verbrechen. Die Zahl der notorischen Diebe wurde im Jahre 1852 auf achttausend berechnet, dazu kommen aber noch vierzig- bis fünfzigtausend Leute, auf welche die Polizei ihre Aufmerksamkeit richten mußte. Wenn trotzdem die Masse des gestohlenen Gutes im Jahre 1853 nur auf einen Werth von etwa zweiundvierzigtausend Pfund sich beziffert, so ist dies vor Allem den trefflichen Sicherheitsmaßregeln zu verdanken. Seitdem ist mit der wachsenden Bevölkerung und der noch größer gewordenen Armuth die Zahl der Verbrecher und die Summe des gestohlenen Gutes wohl entsprechend gestiegen.

Die Londoner Diebe bilden einen Staat im Staat, sie sind ein Volk für sich, welches allen Besitzenden einen unversöhnlichen Krieg geschworen hat. Ein englischer Geistlicher, der viel mit ihnen verkehrte, weil er ihre Seelsorge übernommen hatte, theilte einige interessante Züge aus ihrem Leben mit. Darnach sind sie vollkommen organisirt und bewohnen besondere Quartiere, nicht selten sind drei bis vier zusammenstoßende Gassen und Winkel von ihnen besetzt. Sie zahlen gut und regelmäßig und halten fest zusammen. Ihre Wohnungen sind bei Weitem nicht so schmutzig und herabgekommen, wie man erwarten könnte. Sie benehmen sich hier ziemlich ruhig und ordentlich, denn sie halten es nicht für vortheilhaft, auf ihren eigenen Territorien Lärm und Aufsehen zu erregen. Eine ganze Colonie von Dieben nistet sich oft unter ehrlichen Leuten ein, und diese erfahren nicht eher etwas davon, als bis die Polizei eine Razzia veranstaltet. Sie haben ihre besonderen Schenken und Gasthäuser, ihre eigenen Kaufläden und Handelsleute, ja sogar ihre Statuten, wonach sie in höhere und niedere Classen sich ordnen. Wie sie eine eigene Sprache für sich haben, in welcher, wohl nicht ohne Absicht, kein Verbrechen mit seinem wahren Namen bezeichnet, sondern immer umschrieben wird, so daß es scheint, als verbänden sie gar nicht den Begriff des Verbrechens mit ihren Handlungen und wollten sie denen, die sich ihrem Handwerk als Neulinge widmen, einen solchen von diesem gar nicht aufkommen lassen, so circulirt unter ihnen auch eine besonders für sie berechnete Literatur, voll der gröbsten Obscönitäten und mit der Verherrlichung kühner Räuber und Diebe.

Weiter haben sie ihre eigenen Lieder, gemein und oft sinnlos; ihre Theater, die sogenannten Penny-gaffs, mit Darstellungen, welche die ganze Natur demoralisiren. Jedes Sittlichkeits- und Rechtsgefühl wird auf solche Weise ihnen mit den Wurzeln ausgerissen. Auch eine eigene Gebehrden- und Zeichensprache besitzen sie, die nur sie allein verstehen. Manche ihrer Gebehrden, die einem Passanten nichtssagend scheinen, würde ihn erschrecken, wenn er ihren Sinn verstände. Mit diesen Mitteln wandern sie im ganzen Lande umher und machen sich einander leicht erkennbar, so daß sie überall Aufnahme und Verpflegung unter Genossen finden, auch wenn sie zum ersten Mal in eine Stadt kommen. Selbst vom Schaffot herab geben sie ihren Mitschuldigen noch vielsagende Zeichen.

Kommt einer von ihnen aus dem Gefängniß oder aus der Strafcolonie, so wird er mit Allem, was er dringend nöthig hat, cameradschaftlich versorgt, bis er wieder selbst sein Geschäft in die Hand nehmen kann. Der erste Genuß der Freiheit wird wieder

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: kam
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_201.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)