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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


die dem Dichter gewordene Offenbarung nicht befähigt zeigt, die eherne Sprache der Dinge, wie sie wirklich waren, zu fassen, zu deuten, annähernd wiederzugeben, da soll die Hand fern bleiben, die mit Rosen kommt, wo die Wirklichkeit Feuergluthen hatte, mit Träumen und Mondscheinwandeln, wo Alles die grellste, nur zu gewisse Tageshelle beleuchtete. „Ik, Johann von Leyden, mit myner eegnen Hand ontertekent –“ unterzeichnete sich der König von Sion, sprach ein holländisches Plattdeutsch und kam in seiner Bildung über einen verdorbenen kleinen Schulmeister, den er neben dem Schneider machte, nicht hinaus. Er hatte, wie damals die Handwerker alle („die Meistersinger von Nürnberg“ bringen’s ja jetzt auf der Bühne in Töne), Verse gemacht der Art, wie man damals Verse machte. Man wiederholte die Sprache und die Anschauungen der Bibel. Die Pracht der salomonischen Zeit, die Bilder in den holländischen Kirchen waren Bockelson geläufig. Er führte in sein Königreich Pracht und Herrlichkeit ein mit der Phantasie eines Schneiders aus jenen costümliebenden Zeiten, die sich in den unsrigen nur noch bei den Damenschneidern erhalten hat. Welche Hamlet-Empfindungen, welche Spinoza- Raisonnements legt ihm Hamerling unter! Darf man das? Ich bestreite es sämmtlichen Feuilletonisten der österreichischen Zeitungen gegenüber, ja, ich erkläre die wirkliche Geschichte des Königs von Sion für viel poetischer, als die für ein Ballet-Libretto passende Erfindung Hamerling’s. Es ist die: Ein Syndicus aus Leipzig, der sich nach Münster zurückgezogen hatte, brachte ein schönes, leichtsinniges Weib mit sich, ein Weib voll Liebreiz und Anregungsbedürftigkeit. In einem schönen Garten versammelte sie Alles um sich, was in Münster Musik, Tanz, Freuden der Tafel, Liebreiz der Frauen zu schätzen wußte. Ein edler lutherischer Geistlicher, der Tonangeber und geistige Beherrscher Münsters, Rottmann, wurde das Opfer ihrer Künste. Ihr Gatte starb. Sie hatte ihn vergiftet, sagte man. Rottmann ehelichte sie. Die innere Unruhe, die Angst des Gewissens trieb ihn zu religiöser Exaltation. Er befürwortete die Wiedertaufe, das Anziehen eines neuen Menschen. So traf ihn der Wanderapostel der Wiedertäufer, Matthiesen, der aus Holland kam mit einem jungen Weibe Diwara (Deborah). Diesem folgte Jân Bockelson, ebenfalls beweibt. Schaaren von Wiedertäufern wanderten in Münster ein. Bockelson trat in einen bereits überspannten Kreis, der die Sünde im Fleisch durch den Geist sühnen wollte, in einen Kreis, der sich mühte, in jenem Bezirke einen Anker zu werfen, in welchem es, wie Schiller sagt, keinen giebt, im Bezirk der Phantasie. Auch ihn verlangte nach Diwara. Diese hatte nicht nöthig, ihren Gatten zu vergiften. Er fiel schon vor dem Feinde. Da erfanden sich die glühenden Leidenschaften und jene inneren Stimmen, die uns für die Leidenschaften die Verantwortlichkeit ausreden wollen, eine Wiederaufnahme dessen, was einst den Patriarchen erlaubt gewesen wäre. Diwara wurde des Königs Weib zu demjenigen, das er schon hatte, und noch zu zehn anderen hinzu, die nur die symbolische Zahl voll machen sollten, ohne daß sie Jân berührt zu haben scheint. Die Schwärmerei der Frauen, nicht für die Entfesselung der Sinne, nicht für das sehr zweifelhafte Glück, auf Gerathewohl einem Manne als sein zwölftes Weib zugewiesen zu werden, sondern die wirkliche Liebe für Einen, den sie schwach erkannten, unglücklich fanden um eine Leidenschaft, die ihn verzehrte, kam dem wüsten Wahn zu Hülfe, und es thürmte sich aus schmerzlichen Wahrheiten und den grauenvollsten Irrthümern im Menschenherzen eine Welt voll Gräuel auf, die zu schildern den Dichter reizen kann. Hamerling hat den Kern der Frage nicht getroffen. Nicht einmal die Wiedertaufe, diesen eigentlichen Quell einer solchen moralischen Sündfluth, hat er an irgend einer Stelle seines Gedichts in ihrer tieferen Bedeutung dargestellt, noch irgend etwas von dem entwickelt, was für sie sprechen und durch sie hervorgerufen werden sollte.

Dagegen hat sein unhistorischer Rahmen allerdings eine Füllung erhalten, die uns anzieht durch beschreibende Schönheiten, aber auch abstößt durch Hereinziehen aller der Fragen, die dem Nachtleben – unserer Zeit angehören! Selbst eine Vertreterin jener Form der „freien Liebe“ fehlt nicht, die den Frauen das Vorrecht sichern will, sich ihre Männer selbst auszuwählen, wie sich bei Hof die Fürstinnen ihre Tänzer selbst aufrufen! Fehlt denn unsern Tagen diese Freiheit? Auf jeder letzten Seite unsrer Zeitungen bieten Frauen, „denen es an Herrenbekanntschaft fehlt“, ihre Hand aus. Diwara’s Liebe fehlt auch unserm Gedicht nicht. Sie ist des „edlen Schwärmers“ Jân Bockelson, des Vertreters des „Schönheitsprincips im Leben“, böses Princip. Warum aber als Zigeunerin? Die Kinder des „wandernden Stammes“ spielen in dem wüsten Hexensabbath, wie ihn der Dichter schildert, eine entscheidende Rolle. Würde das damals unter Christen geduldet worden sein?

Diwara ist die vollständige Deborah der Bühne. Die theatralische Attitüde waltet überall vor, nicht blos die des Ballets, der Massengruppirungen mit blauer und rother Beleuchtung, sondern auch das theatralische Pathos der Empfindungsübergänge. Eine Nonne, Hilla, kniet erst vor dem Muttergottesbilde und stößt den Gegner des Nazarenerthums, Jân Bockelson, mit Abscheu von sich, es folgt ein Duett mit Ja! Nein! Nein! Ja! und beim Finale trinken sie sich schon wie Jener gesagt hat, einander ihre Seelen zu. Diwara, die ihrerseits von Bockelson (bei Hamerling) nicht geliebt wird, hat „als Königin, Rächerin, Heldin“ gesiegt, sie hofft es nun auch zum Siege „als Weib“ zu bringen. Man hört einen förmlichen Actschluß des Fräulein Wolter vom Burgtheater.

Gleichviel, ob Sie nun mir, der ich an sich Hamerling’s schönes Talent und seine freiheitsfrische Gesinnung schätze, oder jenen Zeitungen vom Casino folgen wollen, mir lag daran, Sie mit den Gegensätzen zwischen Idealismus und Realismus vertraut zu machen, die eine Zeitlang eine tiefe Kluft in unsre literarischen Debatten gerissen hatten. Sie fängt an sich zu schließen. Doch dürfte in meinen Briefen noch öfters Gelegenheit eintreten, auf sie zurückzukommen.




Der Engel von Brabant.
„Musik ist der Schlüssel zum Herzen."     
Seume. 

„Aus Euch wird Nichts hier in Kopenhagen, der König und das Weibervolk geben Euch zu viel Zuckerbrod zu essen,“ brummte der berühmte Capellmeister und Sänger des Königs Friedrich des Dritten von Dänemark, Caspar Förster, und schlug etwas heftig den Deckel des Spinetts auf. „Es thut mir leid um Eure Stimme, aber ich sag’s Euch noch einmal: es wird Nichts aus Euch, Franciscus de Minde. Ihr habt zum Unglück ein zu glattes Lärvchen und gefallt dem Frauenzimmer, und das macht faul und eitel. Ich wünsche Euch einen regelrechten Hieb in’s Gesicht von den Schweden, die uns just auf den Hals rücken, oder eine andere Luft, dann könntet Ihr der erste Sänger der Welt werden, mein Sohn. Und nun singt Eure Scalen und Solfeggi, geht frisch hinausf in das hohe C und schont Eure Lunge nicht. Die Natur gab Euch einen ganz respectablen Blasebalg, aber Ihr habt’s trotzdem noch lange nicht so weit gebracht wie ich. Und dahin eben, wohin der Caspar Förster kam, muß ein Franciscus de Minde auch kommen, sonst verdient er die Stimme nicht, die ihm in der Kehle steckt. Gebt Acht!“

Nach diesen derben Worten richtete der dänische Capellmeister seine Riesengestalt in ihrer ganzen Länge auf und setzte piano pianissimo das tiefe A ein. Langsam schwoll der Ton an, immer voller, immer gewaltiger, immer mächtiger, es war die vox humana einer Orgel, noch stärker wurde der Klang, er wuchs von Secunde zu Secunde, der Athem der Riesenbrust schien unerschöpflich, endlich war’s leibhaftiger Posaunenschall – die Wände bebten. Der junge Zuhörer, eine schlanke Pagengestalt, griff mechanisch nach der Lehne eines Sessels, bleich und bleicher wurde sein reizendes Gesicht, die großen blauen Augen starrten den Sänger halb bewundernd, halb angstvoll an – da dämpfte Caspar Förster die Stimme allmählich, bis sie endlich im leisesten Piano erstarb.

„Wenn ich das lernen könnte, thäte ich Alles!“ stammelte Franciscus de Minde, noch ganz befangen von dem Eindruck des Gehörten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_233.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)