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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Ja, die Zigeuner! Wie viele Reisende haben an den Originalgestalten dieser dunkelfarbigen Nationalität von einhundertfünfzigtausend Seelen ihre ganz besondere Freude gehabt! Heimgekehrt, wissen sie viel von den sich drängenden Naturschönheiten des Landes, von der culturhistorischen Bedeutung der deutschen Stammesbrüder, der „sächsischen Pioniere des Ostens“, zu erzählen, aber mit sichtlichem Interesse kehren sie doch immer wieder zu den sonnverbrannten Epigonen der altindischen Parias, zu den siebenbürgischen Zigeunern zurück. Und gewiß, diese echten Zigeunerbanden an den Ufern der Donau und Theiß, der Mierisch, des Altflusses und der Kockeln sind etwas ganz Anderes als die modernisirten Zigeunertrüppchen, die sich „alle sieben Pfingsten“ einmal vor den Thoren dieses oder jenes deutschen Städtchens zum Gaudium der Schuljugend sehen lassen.

Hier ist das anders. Auf Schritt und Tritt läuft uns in diesen Gegenden das verkommene Gesindel in die Quere. Vor den Thoren der Städte und Dörfer empfängt uns das junge Geschlecht der Zigeuner und begleitet uns mit frechen Bettelmelodien bis zu der ersten Häuserreihe. Niemand entwischt ihnen. Sollten die jugendlichen Wegelagerer die Ankunft eines Bessergekleideten verschlafen oder sonst wie verpassen, so kreischt die Mutter aus der „Haruba“, dem durchräucherten Tuchzelt, herüber: „Dik, dik, Purdé!“ (Seht, seht, Kinder!), und wie ein Bienenschwarm stürzen die „Purdé“ auf das bezeichnete Opfer los. „Gnädiger Herr Kaiser, Herzog, Graf, Bischof, Stuhlrichter und königlicher Diener – bitte um einen Kreuzer, habe weder Vater noch Mutter und seit acht Tagen nichts gegessen.“ Dann beginnen sie die stereotyp gewordene Apostrophe da capo, so lange, bis sie erhört werden. Dem, der sich durch Bitten nicht erweichen läßt, suchen sie durch ihre Kunstfertigkeit im Radschlagen, wobei ihnen ihre nackte Ursprünglichkeit sehr zu Statten kommt, ein Almosen zu entlocken.

Drüben, vor den höchst ursprünglichen Schaluppen ist der gewaltig hämmernde Schmied mit dem hoch hinaus denkenden Flickschuster in Collision gerathen, deren Uebergang in einen beulenschöpferischen Conflict das trotzige „limau, limau, getämele limau!“ (Schlage nur, schlage, ich geb’ Dir’s zurück!) signalisirt. Die ganze löbliche Zigeunergemeinde stürzt herbei und bethätigt sich an der „marobé“, der wilden Schlägerei. Es sind nicht etwa politische Fragen, die den Kampf heraufbeschworen. Denn was ist diesem Lumpengeschlechte Hekuba, was Wahl- und Nationalitätenkampf, was die Aufgabe des Jahrhunderts, der Fortschritt der Menschheit? Das sind Dinge, von denen noch Keiner aus seiner Mitte eine Ahnung gehabt. Die großen Zeitbewegungen machen sie nicht satt und sind daher für sie nicht vorhanden. Aber ein zerbrochener Topf, für den kann man sich wohl eine Stunde lang durchprügeln! Die Zigeunerweiber ermuntern, ähnlich den Frauen der alten Germanen, die streitenden Männer durch ein Schreien und Fluchen, vor dem sich gewiß selbst der Teufel entsetzt, und die Jungens accompagniren die wuchtigen Faustschläge und Steinwürfe der tapferen Väter mit einem höllischen Lamento. Ein blutiger Kopf pflegt selten zu genügen, es müssen deren schon mehrere sein, um in der Branntweinschenke mit einem „sosta wisto!“ (Viel Glück!) oder mit einem spöttischen „deloi debach, cinorëi!“ (Gott mit Dir, Junker!) Waffenstillstand schließen zu können. Der Bauer aber weiß, daß auf die Ziganomachie regnerisches Wetter folgen muß.

Auch auf dem Markte der Stadt fehlt der braune Geselle nicht. Namentlich an heißen Sommertagen, wo er das sonst so belebte Terrain mit der schmierigen Hökerin allein inne hat, fühlt er sich hier wohl. Hat er mit „mandro“ und „habartchy“ (Schwarzbrod und Branntwein) den höchsten Ansprüchen seines Gaumens Genüge gethan, so streckt er sich behaglich zur Siesta auf das heiße Pflaster und pflegt der „göttlichen Faulheit“. Nur der Cigarrenstummel, den ein Vorübergehender wegwirft, kann ihn verlocken, sich zu erheben, um den Schatz zu annectiren. Liegt einer einmal in der Sonne, so bleibt er nicht lange allein. Bald gesellen sich seine Stammesbrüder zu ihm, wie der Schellenmacher Grantschea, der Bürstenbinder Tschoróro, der Cimbalvirtuos Dantschea, der Siebmacher Rupa, der Fabrikant hölzerner Löffel Kula, um das dolce far niente, das Real- und Idealprincip ihres Lebens, in Gemeinschaft zu genießen. Wenn gegen Abend die eckigen Steine doch etwas zu hart werden, so erheben sie sich gähnend und wünschen Kaiser und König zu sein, um auf einer ganzen Fuhre Stroh schlafen zu können.

Die Industriezweige, denen der Zigeuner das Allernöthigste abringt, wird man vergebens im Wörterbuch des Handels suchen. Aus freiem Entschluß erlernt keiner ein bestimmtes Handwerk; die Nothwendigkeit zu essen muß ihn in irgend einen Geschäftsberuf hineinwerfen, aus dem er jedoch so oft herausfällt, wie Hunger und Durst gestillt sind. Und das bedarf keiner besondern Anstrengung. Er, an dessen Tafel das Fett ein so selten gesehener Gast ist, daß er nur deshalb ein großer Herr zu sein wünscht, um dieses mit dem Löffel essen zu können, er hat von der Existenz, ja von der Möglichkeit eines Kochbuches ebensowenig eine Ahnung, wie von der des ,Moniteur de la Coiffure’ oder „Bazar“.

Das Proletariat dieses Bettlervolkes bilden die financiell oft besser gestellten „Wanderzigeuner“, auf welche die seßhaften Nationalitätsgenossen nicht selten mit Stolz und Verachtung herabsehen. Jene sind überall und nirgends zu Hause. Und was Lenau vom „Mischka an der Marosch“ gesungen, das gilt von ihnen allen:

„Der Zigeuner wandert arm und heiter
In die Ferne, Fremde fort und weiter;
Wenn er auch am Wohlgeschmack der Erde
Karg und selten nur sich weidet,
Ist ihm jeder Ort doch bald entleidet,
Und was heimisch, wird ihm zur Beschwerde.“

Nur wenn der Winter mit seiner nordischen Kälte durch’s Land zieht und im Sommer zur Erntezeit schlägt die Zigeunerbande in der Nähe eines Dorfes ihr Lager auf, um schon nach wenigen Wochen die elenden Baracken wieder niederzureißen und in die Ferne zu ziehen. Wo sie als Pferdehändler und Schnitter, als Kesselflicker und Verfertiger grober Holzwaaren, als Bettler und Wahrsager oder auch in kühnen Griffen gute Geschäfte gemacht, da stellen sie sich über’s Jahr noch einmal ein, wenn sie die unverwüstliche Wanderlust nicht über die Grenze des Landes auf einen fruchtbarern Boden geführt hat.

Wie das Volk Israel durch die Wüste, so ziehen diese Zigeunerkarawanen von Dorf zu Dorf und manchmal auch von Land zu Land. Auf ihren abgemagerten Gäulen, neben denen sie bald lärmend, bald schweigend einherschreiten, führen sie alle ihre Habe: die, beräucherten Zelte, die mangelhaften Werkzeuge und in Quersäcken die kleineren Kinder. Der Fremde, der zum ersten Mal einen solchen Zug aus der Ferne betrachtet, glaubt sich plötzlich in das Reich der Phantasmagorien versetzt.

Daß sich selbst der Eingeborene, der in die Mysterien des Zigeunerlebens längst eingeweiht zu sein glaubt, zuweilen in einer solchen Lage befindet, möge das Folgende beweisen.

Es war ein warmer Frühlingstag, der mich auf eine wilde Hochebene der Karpathen hinausgeführt hatte. Unten im Thale regte sich die Natur, Alles sproßte und blühte, hier oben aber herrschte noch der eisige Winter. Trotz der mächtigen Tannenwälder im Osten, der zackigen Bergkegel und jähen Gebirgsschluchten im Westen, die dem ganzen Plateau den malerischsten Ausdruck verliehen, fühlte ich mich hier doch entsetzlich einsam. Die im Ganzen gut gehaltene Poststraße war in der weiten Gegend die einzige Schöpfung menschlicher Thätigkeit. Der lustige Gebirgsbach, welcher dort an den zahllosen Tannen vorbeistürzte, sehnt sich gewiß schon lange nach dem klappernden Rade der Sägemühle, und die erzreichen Höhen warten sicherlich nicht minder lange auf den pochenden Hammer des Bergmanns; aber umsonst. Die ganze physische Welt dort oben harrt des Tages, an welchem der Genius der Cultur auch sie aus ihrem tausendjährigen Schlummer erwecke.

Pfeifend fegte die entfesselte Windsbraut über das verdorrte Haidekraut dahin, und es wollte mich in dieser Einsamkeit dünken, als müßten jeden Augenblick die Hexen, denen Macbeth begegnet, an mir vorbeitanzen. Da – welch’ seltsames Wunder! Ich war eben um die Spitze eines Bergzuges gebogen und gewahrte nun plötzlich Gestalten, die mich im ersten Augenblick eher an Gespenster als an Menschen erinnerten.

Es waren Zigeuner, die eine Leiche zu Grabe führten. Ob die Sonne jemals einen originelleren Todtenzug gesehen, – ich weiß es nicht, möchte es aber bezweifeln. Auf einem dürren Klepper, welchen ein lustig dreinschauender Junge am Halfter führte, ritt ein bejahrter Zigeuner, mit beiden Händen bemüht, einen grobgezimmerten Sarg auf dem Gaule im Gleichgewicht zu halten. Dem sonderbaren Ritter folgte eine kleine Zigeunertruppe, aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_300.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)