Seite:Die Gartenlaube (1869) 374.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

denn ihr kühner Bogen verbindet die Glockenstuben der beiden mächtigen Thürme der Stadtkirche byzantinisch-gothischen Andenkens. Und an dem Alter der Nachtigall hat gleichfalls Niemand ein Recht zu zweifeln, da selbige am sechsten October 1784 geboren war, demnach am selben Datum dieses laufenden Jahres ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert haben würde, wenn sie nicht schon am 23. März gestorben wäre.

Das Städtlein heißt aber Stadtilm und die Nachtigall hieß Johann Albert Gottlieb Methfessel.

Es war schon in der Kindheit dieses Thüringer Vogels Sitte, daß, wie die Alten sungen, so zwitscherten auch die Jungen, ferner daß, was ein Häkelein werden wollte, sich bei Zeiten bog. Um für diese weisen Lehren ein gutes Beispiel zu finden, werfen wir einen Blick in des Stadt-Cantors Wohnung. Wir können’s zum Fenster hinein besorgen, weil das Stübchen zu ebener Erde liegt. Da sitzen am Mittagstisch und zum Theil auf Bänken, wie sie in der Schul stehen, um das Elternpaar herum wohl an ein Dutzend Kinderlein, und zwar, wie sich's für einen gerechten Cantor und Organisten geziemt, wie die Orgelpfeifen. Und der Vater gebeut: „Albert, bete!“

Mit gefalteten Händchen und wohllautender Stimme hebt der Knabe seinen langen Spruch an, kommt auch geläufig damit zu Ende und hat nur noch das Vaterunser daran zu fügen, so ist er fertig. Immer begehrlicher haftet aber sein Auge an seinem Leibgericht, dem Milchreis in der großen Schüssel. Da steht er an der Bitte: „Unser täglich Brod gieb uns heute“, – und so wenig Falsch ist in dem braven Jungen, daß er den lieben Gott nicht belügen kann, nein, er betet ehrlich heraus, wie es ihm sein Herz dictirt: „Unser heutiges Brod gieb uns täglich!“ –

Der Schlag von alten Cantoren, wie sie damals wohl auch anderwärts, insbesondere aber in Thüringen daheim waren, ist nahezu ausgegangen. Sie waren es, die den ganzen Wald musikalisch stimmten, nicht die vielen fürstlichen Capellen allein, wie vornehme Hof- und Kammerschreiber dafür halten wollen. Daß der ganze Wald noch heute klingt und singt, das haben diese alten Cantoren gethan, die ja alle zugleich als Schulmeister ihr Stück Arbeit mit den lieben Augäpfeln des Volks hatten; aus diesen aber zogen sie die Kräfte für die Soli und Chöre ihrer Kirchenmusiken empor, die ja von je als der Cantoren höchster Triumph anerkannt worden sind. Wer sah es dem Manne nicht auf hundert Schritte an, daß er Bakel und Tactirstab in derselben gewaltigen Faust hielt? daß sein majestätischer Blick Heere von Noten und Schaaren von Kindern – Noten- und Kinderköpfe mit gleicher Strenge und Gewissenhaftigkeit – zu beherrschen gewohnt war? Alles, auch die häusliche Sprache, nahm musikalisches Gewand an; an des Vaters Antlitz lernten die Kinder, was Harmonie und Dissonanz, was Dur und Moll, Piano und Fortissimo zu bedeuten habe, und wenn die Mutter ihm den Abendtrunk aus dem großen Steinkrug in ein Glas einschenken wollte, war es ein wohlverstandenes Wort, wenn er sprach: „Nein, liebe Alte, gieb mir nur gleich die Partitur her.“ –

Vor Allem gehörte aber Das zum Unterschied zwischen Damals und Jetzt, daß für jene alten Cantoren und Organisten die Musik etwas so Erhabenes war, wie die Andacht und das Gebet, deren Werth sie auch nicht nach Geld abschätzten. Die Musik war ihre Liebe, ihre Freude, ihr Trost, ihr Stolz, ihre Gesundheit, ihr Glück. Wo hätte ein solcher Alter je geklagt: „Meine musikalischen Leistungen werden mir zu schlecht bezahlt“? – Was ihm schlecht bezahlt wurde, konnte nur die Schulmeisterei sein: die Musik war sein Ehrenamt, sein Ehrenkleid, und was Werkeltags in der Schule gesungen und musicirt wurde, erschien seinem Auge nur als ein schmückender Saum am Alltagsrock. – Und eben darum, weil die Frau Musica des Vaters Herzallerliebste war, so ging ihm auch Nichts über die Sorge, seine Kinder sammt und sonders und möglichst frühzeitig in den Dienst seiner Madonna einzuweihen. Aus den Cantorenhäusern sind der deutschen Tonkunst ihre größten Meister hervorgegangen. – Jetzt ist’s freilich damit anders, die Berufsbezeichnung wird zugleich als eine billige Art von Belohnung benutzt; denn wenn ein armer Dorfschullehrer sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum begeht, folglich so alt ist, daß er nicht mehr singen kann, so erhält er den Titel „Cantor“.

Auch unsere Nachtigall hat zuerst in einem solchen Thüringer Waldhäuschen gezwitschert. Von den Söhnen des alten Cantors Methfessel verriethen der älteste, Friedrich, und unser Albert ungewöhnliche Begabung für Musik. Es müßten freilich sehr alte Leute sein, die es gesehen hätten, aber von Hörensagen wissen’s Viele im Städtchen, was für ein rührendes Bild es gewesen, wenn der Vater mit dem Söhnchen auf dem Schooß auf der Orgelbank saß und Beide gemeinsam die Claviatur bearbeiteten. Albert’s Händchen verrichteten auf dem Manual, was sie eben ermachen konnten; das ihm Unmögliche besorgte Papa. Und fest sitzen mußte der kleine Reiter, mit gutem Schluß um des Vaters Knie, denn es durfte ihm Aug’ und Hand nicht beirren, wenn der Fuß des betreffenden väterlichen Beines auf dem Pedal das Seine that. Auch ein tüchtiger Sänger ward Albert schon als Knabe, und selbst die landüblichen Saiteninstrumente hingen für ihn nicht vergeblich an der Wand der Stadtilmer Cantorei; insbesondere hatte er es auf der Guitarre später zu hoher Meisterschaft gebracht. Schon im zwölften Jahre versuchte er sich in der Composition, und natürlich waren es Kirchenmusikstücke, zu denen sich der junge Geist kühn emporschwang, und die der Vater in der großen Kirche selbst aufführen ließ. Das Gefühl dieser Stunden soll einmal Jemand nachempfinden! – Außerdem war in dieser Stadtilmer Knabenzeit ihm noch das Denkwürdige widerfahren, daß die einzige, aber ungeheuere Ohrfeige, welche er von seinem Vater wegen unbefugten Rosenblätterrauchens aus einer alten abgelegten väterlichen Tabakspfeife erhalten, ihn für sein ganzes Leben zum abgesagten Rauchfeind machte.

Nach den Kirchenmusiken der zweite Stolz der alten Cantoren war – ein Sohn als Pfarrherr. Sie ließen sich’s sauer werden um die Erfüllung dieses Wunsches. Dem Cantor Methfessel ging’s aber übel damit. Schon hatte er die schweren Kosten des Studirens an seinen Sohn Friedrich gewendet, der 1796 endlich als Hauslehrer ihm aus dem Brod gekommen war, aber gleich darauf die Theologie mit der Hauslehrerstelle an denselben Nagel hing und sich ausschließlich der geliebten Musik zuwandte. Dafür sollte nun Albert die Kanzelehre des Hauses sichern, und zu diesem Behufe bezog er nach der Confirmation das Gymnasium zu Rudolstadt. Während nun Friedrich von seinem musikalischen Zugvogelleben nacheinander nach Alsbach, Rhena, Ratzeburg, Probstzella, Saalfeld, Koburg und Eisenach geführt wurde und nach und nach vierzehn Liedersammlungen herausgab, die den Vater so mit ihm versöhnten, daß er wieder nach Stadtilm zurückkehrte, flatterte auch Albert zu Rudolstadt in den bezaubernden Netzen der Musik. Nicht nur die treffliche fürstliche Capelle trug dazu bei, sondern auch der öffentliche Singchor, dem er sogleich beigetreten und dessen Präfect er später drei Jahre lang war. Solche Singchöre bestanden früher in den meisten Städten mit Gymnasien, welch’ letztere Baß und Tenor stellten, während die Rathsschulen die Alt- und Discantstimmen dazu lieferten. Diese „vollständigen Chöre“ hatten gegen die Verpflichtung, an hohen Feiertagen bei den Thurm- und Kirchenmusiken mitzuwirken, das Recht, wöchentlich zwei Mal auf den Straßen und bei „halben und ganzen Leichen“[1] um bestimmte Bezahlung zu singen. Ich weiß das sehr genau, denn ich selbst war mehrere Jahre Subpräfect und endlich sogar Präfect des Chors in Koburg und habe in den Straßen und auf dem Gottesacker meiner Vaterstadt mit meinem Chor viele hundert Male gesungen für die Lebendigen und für die Todten.

Mein College Methfessel war freilich ein anderer Präfect, als ich, denn er stattete die Singbücher seines Chors mit vielen selbstcomponirten Liedern, Motetten und Cantaten aus. Dazu sang er selbst wunderschön, war der liebenswürdigste Camerad und wegen seiner stets sorgsamen, netten äußern Haltung auch in den Familien bis zuhöchst hinauf gern gesehen. Trotz alledem lernte er brav, ward besonders ein fester Lateiner für’s ganze Leben und konnte schon 1807 mit voller Reife die Universität beziehen.

Es ist anzunehmen, daß er es in Leipzig anfangs redlich mit der Theologie meinte, schon seinem Vater zu Liebe, den damals der harte Schlag getroffen, daß seinen Sohn Friedrich im

schönsten Mai und mitten aus der Composition einer großen Oper „Doctor Faustus“ der Tod abholte. Daß aber auch die Musik als heimliche Geliebte viel gefährlicher ist, wie als offenbar Verlobte, zeigte sich schon nach einem Jahr: auch Albert benutzte den Nagel, an welchen sein Bruder die Theologie gehangen hatte, und warf sich mit Leib und Seele Frau Musica in die Arme. Es

  1. Chorgeschäftliche Benennung für die Leichenbegängnisse, je nachdem dabei der ganze oder nur der halbe Chor zu singen hat.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_374.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)