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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
31.

Das tageshell erleuchtete Vestibüle war leer. Die Dienerschaft war im Tanzsaal beschäftigt, aus welchem die rauschende Ballmusik herniederscholl. … Gisela schlüpfte ungesehen in’s Freie. Die kleinen Kiesel zu ihren Füßen funkelten in dem Lichtstrom, der droben durch die Scheiben quoll und die Fensterkreuze in riesigen Formen über den Kiesplatz warf.

Rasch über den weiten hellen Platz eilend, bog die junge Dame in die nächste Allee ein – aber auch sofort fuhr sie mit einem lauten Aufschrei zurück – eine Gestalt trat hinter dem ersten Baum hervor.

„Ich bin es, Gräfin,“ sagte der Portugiese in tiefen, bebenden Lauten.

Gisela, die angstvoll nach dem Schlosse zu geflohen war, kehrte sofort zurück, während der Portugiese den Schatten der Allee verließ und heraus auf den Kiesplatz trat.

Das blendende Kerzenlicht der Kronleuchter floß hernieder über sein unbedecktes Haupt und ließ jeden Zug des schönen Gesichts scharf hervortreten – auf der Stirne lag der rothe Streifen, die Augen aber brannten in freudiger Ueberraschung und unverhohlener Gluth.

„Ich habe hier gewartet, um Sie in den Wagen steigen zu sehen,“ sagte er – es klang, als werde diese gedämpfte Stimme erstickt durch das stürmische Klopfen des Herzens.

„Das Pfarrhaus ist nicht weit – bis dahin brauche ich keinen Wagen, und einer Bittenden ziemt es auch, zu Fuße zu kommen,“ versetzte das junge Mädchen sanft, fast demüthig. „Ich habe gebrochen mit der Sphäre, in der ich geboren und erzogen bin – ich lasse Alles dort zurück,“ – sie deutete nach dem Schlosse – „was noch vor wenigen Tagen mit dem Namen der Gräfin Sturm identisch war: die gestohlene Erbschaft, den Geburtshochmuth und alle jene sogenannten Vorrechte, welche eine egoistische Kaste an sich gerissen hat. … O mein Herr, ich habe einen schaudernden Blick gethan in jene Sphäre, die sich durch Mauern und Wälle hochmüthig isolirt von der übrigen Menschheit! Ich bin bis dahin der kindischen Meinung gewesen, diese Mauern seien da, um das Reine vom Unreinen, die Tugend vom Verbrechen zu scheiden, und nun sehe ich, daß das Verbrechen draußen unter den Verachteten nicht heimischer sein kann, als hinter diesen Mauern – ich mußte mich noch vor wenigen Augenblicken überzeugen, daß man, statt den Adel doppelt dafür zu strafen, weil er nicht adelig ist, selbst wieder zum Betrug greift, um die Flecken der Ehrlosigkeit vor dem richtenden Auge der Welt zu verdecken. … Ich flüchte zu den Menschen, die wahrhaft Menschen sind – ich suche ein Asyl im Pfarrhause.“

„Darf ich Sie hinüberführen?“ fragte er mit verschleierter Stimme.

Sie streckte ihm ohne Zögern die Rechte entgegen.

„Ja – an Ihrer Hand will ich in das neue Leben eintreten,“ sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Da stand er, genau wie am Abgrund der Steinbrüche. Er hob die Hand nicht, und der rothe Streifen, der erloschen war, flammte auf’s Neue über die Stirne hin.

„Gräfin, ich erinnere Sie an einen dunklen Moment in Ihrer Kindheit, an jene Mißhandlung, infolge deren Sie krank und elend und um alles Glück der Kinderjahre betrogen wurden,“ sagte er dumpf. „War es nicht dort“ – er zeigte nach einer Stelle des Kiesplatzes, welche von dem aus dem Vestibüle strömenden Lichtquell förmlich überschüttet wurde – „wo der Grausame, der Jähzornige, den armen, kleinen Kindeskörper unbarmherzig schüttelte und von sich stieß?“

Gisela’s bleiche Wangen wurden noch weißer.

„Mein Herr, ich habe Ihnen gesagt, daß diese Erinnerung begraben sei mit –“

„Mit ihm, mit jenem Unglücklichen, der noch in derselben Nacht umgekommen ist, nicht wahr, Gräfin? unterbrach er sie. „Er ist nicht ertrunken – sein Bruder rettete ihn, um unmittelbar darauf selbst in den Wellen unterzugehen!“ – Jetzt hob er langsam seine Rechte. – „Das ist die Hand, die Sie gemißhandelt hat, Gräfin Sturm! Ich bin jener Berthold Ehrhardt, jener muthmaßliche Brandstifter, der vermessene Demokrat, der Seiner Excellenz so schlimme Dinge gesagt' –“

Er hielt inne und stand vor ihr, athemlos, mit gesenkter Stirne, als erwarte er einen Richterspruch, der ihn zu Boden schmettern müsse.

„Mein Herr,“ sagte das junge Mädchen tieferschüttert – nie wohl hatte die süße Stimme so hold tröstend und seelenvoll geklungen – „Sie haben mir neulich selbst gesagt: ,Wer weiß, vielleicht litt seine Seele tausend Schmerzen!’ Und der Fürst machte Ihnen vorhin den Vorwurf, Sie haßten den Adel – Sie haben damals jedenfalls traurigen Grund genug gehabt, eine Vertreterin der verhaßten Kaste – wenn auch wohl in jenem Augenblick die unschuldigste – von sich zu stoßen.“

„Darf ich Ihnen den Grund mittheilen?“ fragte er aufathmend.

Sie neigte bejahend das Haupt, und Beide traten in die dunkle Allee zurück. Und er erzählte ihr mit schmerzlich vibrirender Stimme die Leidensgeschichte seines ertrunkenen Bruders und schilderte den namenlosen Jammer, mit welchem er an der Seite des schmählich Verrathenen durch das Schloß und diese Alleen geschritten. Er zeigte dem lautlos schweigenden Mädchen den hoch in die dunklen Lüfte hineinragenden Felsenvorsprung, auf welchem einst das edelste Herz seinen letzten furchtbaren Kampf durchgerungen … die Nacht war sternenklar geworden – die gewaltigen Umrisse der weißen, nackten Felsenbrust dämmerten durch das Dunkel, und hoch über ihr funkelten die Millionen Silberflitter, mit denen die Nacht ihre Schleppe bestreut. … Und er erzählte weiter, wie er flüchtig geworden, den heißen Rachedurst im Herzen wie er aber auch in rastloser Thätigkeit Schätze um Schätze aufgespeichert habe, um seinem vergötterten Bruder ein würdiges Denkmal setzen zu können – ein Denkmal, bestehend im Ankauf des vernachlässigten Hüttenwerkes und in der Schöpfung der Neuenfelder Colonie, wie sie jetzt bestehe. … Und während er sprach, bald in leidenschaftlich aufbrausenden Tönen, bald mit dem halbverbissenen Ausdruck unsäglicher, jahrelang getragener und verschwiegener Leiden, schmetterten die Jubelaccorde aus dem Ballsaale herüber, und auf der seitwärts sich hinstreckenden, halbbeleuchteten Rasenfläche kreisten und jagten die Schatten der tanzenden Paare. … Drüben aber zwischen den dämmernden Bosquets sprangen die Fontainen, geisterhaft angestrahlt von dem Feenglanz der Säle – und wenn die gellenden Trompeten für einen Moment schwiegen, da flüsterten und murmelten sie in die Erzählung hinein, als wüßten sie noch, wie jener tiefernste Mann mit der vom Tod bezeichneten Stirne zum letzten Mal an ihnen vorübergeschritten.

Und als der tieferregte Mann endlich schwieg, da nahmen zwei weiche, kleine Hände seine herunterhängende Rechte und hielten sie mit schüchternem Drucke fest.

„Gräfin, Sie verabscheuen diese Hand nicht?“

„Nein – wie könnte ich?“ stammelte sie mit halbgebrochener Stimme. „Trösten und beruhigen möchte ich Sie mit aller Ueberzeugungskraft, die einer menschlichen Stimme möglich ist –“

Er hielt ihre Hände fest und zog das Mädchen stürmisch hinaus auf den Rasenplatz – der Kerzenschein fiel hell auf ihr Gesicht und ließ die halbverhaltenen Thränen in den braunen Augen funkeln.

„Erinnern Sie sich der Worte, die Sie mir heute nachgerufen, als ich meinte, für immer von Ihnen zu gehen,“ stieß er in namenloser Aufregung hervor und preßte die schlanken bebenden Hände an seine Brust.

Sie schwieg und strebte mit tiefgesenktem Kopf, ihre Hände frei zu machen – sie wollte offenbar das von flammender Röche übergossene Antlitz hinter ihnen verbergen.

„,Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!’“ – flüsterte er ihr in’s Ohr. – „War es nicht so? … Gisela, dieser Ruf galt dem Portugiesen mit dem hochtönenden Namen – der aber ist versunken für immer in dem Augenblick, wo sich seine Mission erfüllt hat“ – seine Stimme wurde klanglos, denn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_482.jpg&oldid=- (Version vom 18.9.2021)