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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

No. 32.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)


32.

Während die junge Reichsgräfin Sturm das weiße Schloß und den aristokratischen Boden für immer verließ, ging der Minister in seinem Arbeitscabinet auf und ab – es sah aus, als zermartere der Mann sein Gehirn nach einem einzigen klaren Gedanken. Das Haar, das sonst einen glatten Bogen über der Stirn beschrieb, fiel wirr durcheinander – die Hand fuhr dann und wann, ganz gegen die Gewohnheit des eine tadellose Außenseite streng festhaltenden Diplomaten, in grimmiger Hast durch die parfümirten, graugesprenkelten Strähne.

Endlich warf er sich erschöpft an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Die schöne, junge Braut mit den großen Taubenaugen und den Feldblumen in den Händen lächelte fort und fort von der Wand hernieder auf den Mann, dem allmählich leichte Schweißperlen auf die wachsbleiche Stirne traten, während die Zähne wie im Fieber hörbar zusammenschlugen, und die Hand, die sonst einem eisernen Willen auch in eisern starren, festen Linien gehorchte, krause, unsichere Hieroglyphen auf das Papier warf.

Schon nach wenigem Zeilen schleuderte er die Feder weit von sich, nahm den Kopf zwischen die Hände und rannte abermals in unbeschreiblicher Aufregung hin und wider. … War es doch, als scheue er sich vor dem zierlichen Tisch dort neben dem Fenster, der einen kleinen Mahagonikasten auf seiner runden Platte trug. Das Tischchen stand immer auf derselben Stelle, seit Baron Fleury das weiße Schloß sein eigen nannte und nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, und der Mahagonikasten war der unzertrennliche Reisebegleiter Seiner Excellenz und befand sich auch im Bureau des Ministerhôtels zu A. stets in seiner Nähe. Während aber jetzt sein Fuß dem unscheinbaren Möbel sichtlich auswich, glitten die scheuen Augen immer wieder hinüber, als zucke aus dem kleinen Kasten ein magnetisch bezaubernder Schlangenblick. …

Und mit jeder vorüberrollenden Viertelstunde, welche die Pendule mit feinem, silbernem Klange unerbittlich pünktlich anzeigte, verdoppelten sich die Schritte des Auf- und Abwandernden, bis er plötzlich, wie mittels eines gewaltsamen Ruckes halb athemlos vor dem Tischchen stehen blieb und mit hastigen, unsicher tappenden Händen den Kasten aufschloß. … Er sah nicht hinein in das kleine, elegant ausgestattete Viereck – seine Augen irrten über den türkischen Fenstervorhang, wie wenn sie die orangegelben Arabesken zählen müßten, während seine Rechte einen Gegenstand ergriff und in die Brusttasche gleiten ließ.

Diese einzige Bewegung gab plötzlich, der haltlos zusammengebrochenen Erscheinung des Mannes einen Anschein von Entschlossenheit zurück. … Er schritt nach der Thür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um – durch die klaffende Thür und das schräg gegenüberliegende, geöffnete Fenster fuhr der Nachtwind und jagte die Flamme aus der auf dem Schreibtisch stehenden Kugellampe – sie züngelte nahe am Vorhang hin.

Der Minister stieß ein heiseres, hämisches Lachen aus; er verfolgte einen Augenblick die Flammenzunge, wie sie sich reckte und streckte und, um wenige Linien zu kurz, vergeblich an dem Stoff zu lecken versuchte – unwillkürlich streckte er die Hand aus, als müsse er ihr zu Hülfe kommen – bah, wozu? Das Schloß war zu einer enorm hohen Summe versichert, und die drunten tanzten, waren längst entflohen, bis die Flammen an den Plafondbalken fraßen und die Kronleuchter hinunterschleuderten! …

Er schloß die Thür leise und glitt auf den Zehen durch mehrere anstoßende Zimmer. Vor dem Boudoir seiner Gemahlin blieb er stehen und drückte das Ohr an die Thürspalte – leise Klagelaute drangen heraus. … Jetzt kam die namenlose Verzweiflung, die er bisher noch niedergedrückt und verbissen, zum Ausbruch und packte und schüttelte den lauschenden Mann. – Die Frau, die da drin so schmerzlich weinte, war sein Abgott, das einzige Wesen, welches er je geliebt und das ihn, den alternden Mann, noch jetzt mit ungeminderter, glühender Leidenschaft erfüllte.

Bis zur Unkenntlichkeit entstellt in seiner Erscheinung, drückte er geräuschlos die Thür auf und blieb auf der Schwelle stehen.

Da lag die schöne Titania auf ein Ruhebett hingestreckt. Sie hatte das Gesicht tief in die Kissen eingewühlt; über Busen und Rücken wogte das entfesselte, wundervolle nachtschwarze Haar, und die weißen, bis an die Schultern entblößten Arme hingen wie leblos über die atlasgepolsterte Lehne des Ruhebettes hinab – nur die kleinen Füße hatten offenbar nichts von ihrer Energie eingebüßt; sie standen auf dem zu Boden geschleuderten brillantenen Fuchsienkranz und schienen ihn in Atome zertreten zu wollen.

„Jutta!“ rief der Minister.

Bei diesen markerschütternden Lauten fuhr sie empor wie von der Tarantel gestochen. Mit einer wilden Geberde schüttelte sie das niederfluthende Haar aus dem Gesicht und stand plötzlich auf ihren Füßen – das Bild einer entfesselten Furie.

„Was willst Du bei mir?“ schrie sie auf. „Ich kenne Dich nicht! Ich habe nichts mit Dir zu schaffen!“ Sie deutete nach der Richtung des Salons, wo sie den Fürsten wußte, und stieß ein grauenhaftes Gelächter aus. „Ja, ja, die Wände haben Ohren gehabt, mein Herr Diplomat par excellence, und ich genieße das Vorrecht, das große Staatsgeheimniß um einige Stunden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_497.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2019)